Cover des Albums "Das Original"

2005

Phrasenhenker

Deutschland im Jahre fünf nach der Jahrtausendwende: Die Große Koalition der Verflacher, denen noch die Latte des Mittelmaßes zu hoch hängt, hat das Bodenkriechen zum Höhenflug erklärt. Ob Gerhardschröderisierung oder Merkelei – Deutschland ist geistiges Zonenrandgebiet, auch ganz ohne wirtschaftliche Misere. Das Volk der Dichter und Denker dichtet sich grenzdebile Pappnasen zu gesellschaftlichen Ikonen um und denkt sich nicht mal mehr was dabei. Vor allem nichts Schlimmes. Geistesgeiz ist geil, heißt die Parole.

Während sich die Karawane der von sich selbst Geblendeten längst aus dem Staub gemacht hat, um sich am Ende der nächstbesten Casting-Schlange anzustellen – Endemol ist ja immer wieder auf der Suche nach dem bedeutendsten Niemand des Landes –, reitet Heinz Rudolf Kunze mit fein geschliffenen Brillengläsern und unbeirrbar wie weiland Kara Ben Nemsi durch das wilde Absurdistan zwischen Rhein und Oder-Neiße. Kunze, der Wort & Ton-Künstler mit dem teutonischsten aller denkbaren Namen, erlaubt sich auf seiner Reise von Oase zu Oase den Luxus, neben seinen in puncto Stil eher gängigen Musikalben in schöner Regelmäßigkeit Bücher feilzubieten, die es in sich haben wie die Büchse der Pandora. Mit skalpellscharfem Blick seziert er in ihnen Verhältnisse und Gegebenheiten, mit ätzender Zunge nennt er die Desaster unserer menschlichen, manchmal allzu menschlichen Existenz beim Namen. Egal, ob es sich dabei um die Abgründe von Zweierbeziehungen handelt oder um Platitüden, die uns tagtäglich als letzte Wahrheiten verkauft werden sollen. Bei Kunze, dem Musiker mit germanistischer Vergangenheit, ist es guter Brauch, den Finger gehörig in die Salzlache zu tunken, bevor man ihn in offene Wunden legt.

Auch Artgerechte Haltung, das neueste Buch Kunzes mit Texten der beiden letzten Jahre, strotzt geradezu vor gekonnt geschleuderten Blitzen in Sachen Lyrik und Kurzprosa. Kunze macht den Phrasenhenker, identifiziert die Rudelbildung als Kultur der Deutschen und als Gefühl seiner Landsleute für sich selbst den Fremdenhass. Er stellt fest, dass das Leben einem nichts bieten kann, wenn man selbigem noch nie begegnet ist, und präsentiert sich als wertkonservativer Mahner, der am Ende lieber doch dem eigenen Hodenpochen nachgibt. Das hat selbst auf kleinerem Raum mehr Sex-Appeal als Houellebecq. Schnellschüsse oder Worte um ihrer selbst willen sucht man bei Kunze vergebens. Das Reiben an den Dingen geschieht bei ihm nicht aus Prinzip, sondern aus einem sich sorgenden Nachdenken. »Ich sehe mit großer Beklemmung die immer weiter steigenden Arbeitslosenzahlen und den langsamen Ausklang des deutschen Wirtschaftswunders, ich sehe unsere Gesättigtheit und mit großer Sorge die Entvölkerung Ostdeutschlands, die Verelendung ganzer Landstriche – kann aber nicht erkennen, wie das alles umgekehrt werden kann«, hat Heinz Rudolf Kunze dem Verfasser kürzlich in einem Gespräch über seine Arbeit bedeutet. Kunze ist ein von den Verhältnissen Umgetriebener. Er lebt mit der Abwesenheit von Lösungen und verzichtet dennoch nicht darauf, dem eigenen Zorn Ausdruck zu verleihen, während die Große Koalition der weniger als Mittelmäßigen dumpf vor sich hin waltet. Auch dies ist: eine artgerechte Haltung.

André Hagel, Neues Deutschland, Dezember 2005

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