Heinz Rudolf Kunze live 2004 (Foto von Gerald Erdmann)

2004

Konzert – Festival "Rockbeben" 21.08.2004 – Geesthacht – Freibad (Open Air)

Vor 20 Jahren wäre eine solche Konstellation – vier starke Deutschrockbands und eine propere Nachwuchstruppe – einer der Höhepunkte der Konzertsaison gewesen. 20 bis 30.000 Menschen wären zu einem Festival dieser Güteklasse zusammengeströmt. Die Presse hätte bundesweite Werbung garantiert, ein Exklusivbericht im Musikexpress, womöglich eine eigens gedruckte Sonderedition, hätten als Ehrensache gegolten. Heutzutage wirken Künstler der Sorte BAP, Wolf Maahn oder Heinz Rudolf Kunze nicht selten wie Relikte aus der grauen Vorzeit, wie "Männer des vorigen Jahrhunderts", als ein solcher sich Kunze vor kurzem trotzig ausrief. Und doch: Trotz allen Anachronismus' vereinen derartige Bands in ihren Songs weitaus mehr musikalisches Fundament, textliche Aussagekraft und bleibenden Unterhaltungswert als die meisten der substanzlosen Instantgruppen und trällernden Modepüppchen, die im neuen Jahrtausend die Hitparaden bevölkern. Daß etwa der bluesbetonte Kölschrock von BAP etwas Zeitloses an sich hat, die nach wie vor bissige Lyrik eines Heinz Rudolf Kunze weiterhin gekonnt den Finger in die Wunden der "BRD" legt, Wolf Maahn oder Jule Neigel noch heute weitaus mehr Soul in ihrer kleinen Zehenspitze spazieren tragen als alle Yvonne Catterfelds, Aymans und Laith Al-Deens dieser Welt zusammen, wurde dem Interessierten am Samstag, dem 21. August 2004, auf dem "Rockbeben"-Festival in Geesthacht, erneut vor Augen geführt. Zwar nur noch rund ein Zehntel der oben genannten Zuschauermassen hatte den Weg in die lauschige Kleinstadt an der Elbe, südöstlich von Hamburg, gefunden. Aber jene zeitgeistfernen Wagemutigen zeigten sich allesamt so sehr begeistert von den Helden ihrer Jugendzeit, als sei BAPs Meilenstein "Zwesche Salzjebäck un Bier" gerade erst auf den Markt gekommen, als wäre Heinz Rudolf Kunzes oft mißverstandener Pseudo-Schlager Dein ist mein ganzes Herz der neueste Schrei aus den Radiohitparaden. Vier Bands, die in den 80er Jahren zum Besten gehörten, was die einheimische Rockszene zu bieten hatte, und eine spritzige, hochtalentierte Nachwuchsband aus der fernen Jetztzeit teilten sich die Bühne im Rahmen eines über achtstündigen Rockmarathons, das für Freunde bodenständiger Klänge mit intelligenten deutschen Texten kaum Wünsche offenließ.

Den Anfang machten die Jüngsten. ETWAS heißt eine fünfköpfige Formation, die am 14. September 2001 in einem kleinen Dorf nahe Leipzig gegründet wurde und inzwischen, besonders bei ganz jungen Musikfreunden, diejenigen Gefühle aufkommen läßt, die wir vor 25 Jahren in Anbetracht frecher NDW-Combos a'la Neonbabies, Insisters oder Ideal empfanden. Angeführt von der bildhübschen, kaum 17jährigen Lolita Sydney (voc, b) und ihrem zwei Jahre älteren Cousin Stefan (git, voc) hatte das Quintett die oft unergiebige Aufgabe, die höchstens 200 Fans, die schon zu Festivalbeginn um 15.00 Uhr am Geesthachter Freibad direkt an der Elbe eingetroffen waren, aus der Reserve zu locken. Der stets jugendkritische Rezensent vermutete, dies gelänge Sydney womöglich nur durch ihren heißen Aufzug – knappes, schwarzes Top, ultrakurzer Minirock, rötlich-durchsichtige Strapsstümpfe – ... bis sich die kleine Schönheit einen Baß umschnallte und ihren Mund öffnete. Zu knackigen, schnellen Rhythmen zwischen traditionellem 77erPunk, (zu) aktuellen Neo-Rock-Elementen und klassischer New-Wave-Attitüde trug Sydney mit der Intensität einer aufmüpfigen Nena und der Stimmkraft einer jungen Nina Hagen ihre (zumeist im Mathematikunterricht) selbstverfaßten Songs wie "Etwas gelogen", "Bemal mich", "Viel zu viel" oder "Geradewegs ins Licht" vor. Unverbraucht, frisch, frech und ohne jegliche Starallüren flirtete die quirlige Schülerin mit dem noch abwartenden Publikum, das in punkto Altersdurchschnitt zur Generation ihrer Eltern, wenn nicht gar Großeltern gehörte. Gitarrist Stephan durfte auch mal ans Mikro und grölte augenzwinkernd-trotzig den Ärzte-ähnlichen Pubertätshymnus "Immer das selbe". Nach und nach tauten die erst ungläubig dreinblickenden Kunze- und BAP-Jünger auf. Der Jubel gewann an Lautstärke, besonders als ETWAS ihre durch Dauerrotationen bei MTV, VIVA oder "Eins Live" bekannte erste Single "Ich zieh mich vor Dir aus" anstimmten: Ein liebenswertes, eingängiges Stückchen "Power-Pop", wie wir derartige Klänge zu seligen The Knack- oder Blondie-Zeiten stets genannt haben. NOCH ließ Sydney ihren Worten (die übrigens im übertragenen Sinne von einem Seelenstriptease handeln und nicht in erster Linie vom Nackigmachen) keine Taten folgen, sondern intonierte lieber den tieftraurigen Neoblues "Alles wird gut". Doch nach "etwas" über 30 Minuten mußten ETWAS auch schon wieder aufhören zu spielen. Nicht jedoch, ohne ihre aktuelle 45er "Halt mich", einen so kurzen wie rasanten Punkrocker, anzustimmen. Und siehe da: die Altrocker vor der Bühne waren plötzlich hellwach und forderten eine Zugabe. Diese hieß "Komm mit" (hatte allerdings zurecht weder in moralischer noch in ideologischer Hinsicht etwas mit der gleichnamigen christlichen Jugendzeitschrift und Kurt-Krenn-Verteidigungsfront aus Münster zu tun) und trieb die Frontfrau zur Tat: Sydney ließ (fast) alle Hüllen fallen, sprang, nur noch mit BH und Slip bekleidet, über die Bühne und wirbelte auf diese Weise die doch so gefestigte ethische Grundeinstellung (sicher nicht nur) des Rezensenten arg durcheinander. Wie sollte ich diese hocherotische Szenerie nun in meinen Konzertbericht einbauen? Zeigefingerschwenkend, mich moralisch aufplusternd und Kunze-gemäß bellend: "Nichts ist so erbärmlich wie die Jugend von heute"... oder hingerissen-postpubertär von Sydneys alles durchbrechendem Charme schwärmend?

Wolf Maahn, der nach einer Umbaupause von höchstens 15 Minuten, gutgelaunt, bis zum Bersten mit Soulfeeling beseelt und vollkommen relaxed, gemeinsam mit seiner vierköpfigen Band (dr, b, git, key), als nächste Attraktion die Bühne stürmte, gab mir mit dem zweiten von ihm aufgeführten Song einen kleinen Tip, wie ich die plietsche ETWAS-Frontfrau und ihre umreißende Art beschreiben könnte: "Du hast die unverschämte Kraft / Du hast den Schlüssel, der zum Himmel paßt". Bessere Worte zu Sydney konnten selbst dem sonst um keine Formulierung verlegenen Rezensenten nicht einfallen... Um 16.05 Uhr begann der inzwischen knapp 50jährige "deutsche Springsteen" eine fast neunzigminütige Show der Extra-Klasse. Im Frühjahr 2004 hatte der großgewachsene Wahlkölner ein – leider vom breiten Publikum sträflich mißachtetes – hörbares Kunstwerk namens "Zauberstraßen" veröffentlicht, auf dem er, alles andere als aggressiv oder zynisch, dem neoliberalen, oberflächlichen Zeitgeist zwischen "Superstars", "Wonderbras" und "Klingeltöne-Download-Streß pure Romantik, Geist und Gefühl entgegensetzte. Doch nur drei Songs daraus – neben "Schlüssel", der sanft groovende Eröffner "Eins für die Schwärmer" und die knisternde Soulballade "Treibsand" – fanden Platz in einem Programm, in das der Ex-"Deserteur", der im November vor 20 Jahren mit "Irgendwo in Deutschland" nicht nur eine gleichwertige Antwort auf Springsteens Rockklassiker "Born in the USA" vorgelegt hatte, sondern auch sein persönliches Meisterstück, dessen Intensität, Aussagekraft und Dichte er tatsächlich erst wieder auf "Zauberstraßen" zu erreichen vermochte, seine erfolgreichsten Hymnen, die beliebtsten Liveklassiker und die zeitgeschichtlich relevantesten Songs aus seiner über 22jährigen Karriere als deutschsingender Rocker integrierte. Maahns junge Begleitmusiker sorgten für eine kraftvolle Entstaubung so herausragender Zeitgeistbetrachtungen wie "Rosen im Asphalt", "Kleine Helden" oder "Irgendwo in Deutschland". Auch seinen unpathetischen Liebesliedern ("Ich wart auf Dich", "Deine Küsse") tat die Umsetzung durch Maahns neue Truppe sehr gut. Erstmals seit vielen Jahren hatte der brillante Songschreiber und Gitarrist den "Blinden Passagier" für ein Livekonzert ausgegraben. 1982, damals noch im kühlen Synthi/NDW-Gewand, ein Teil seines deutschsprachigen Debüts "Deserteure", verband Maahn bereits drei Jahre später den Text mit einer Melodie von Vorbild Springsteen. Seit 1986 mußten die Fans allerdings auf "Blinder Passagier" bei Maahn-Konzerten verzichten; erst 2004 kam es zur fundamentalen Reanimation. Zum Schluß seines gefeierten Auftritts – immer mehr Zuschauer hatten sich inzwischen nach vorne an den Bühnenrand getraut – kam der lakonische Romantiker natürlich nicht umhin, seinen schon frühzeitig verfaßten Abgesang auf Äußerlichkeitenextremismus und hedonistisches Gehabe hervorzukramen und gemeinsam mit den begeistert mitsingenden Zuschauern zu fordern "Gib mir das Fieber zurück!": Genauso eindringlich, aber noch weitaus nötiger als vor 20 Jahren! Als (leider einzige) Zugabe diente eine gitarrenlastige Bluesrock-Fassung der 1990er-Komposition "Wenn der Regen kommt". Das Publikum geriet aus dem Häuschen ... und es folgten den Worten Taten: Bislang hatte ein melancholisch-herbstlich anmutender Wettermix aus leichtem Sonnenschein und dunklen, romantischen Wolken geherrscht, wobei es gottlob trocken geblieben war. "Einer liebt Dich / wenn der Regen kommt" sangen Maahn und Publikum unisono. Dies ließ sich der besungene nicht zweimal sagen und plötzlich öffnete sich der Himmel und es goß in Strömen. Doch dieser (musikalisch geradezu heraufbeschworene) Regenschauer blieb der einzige an jenem Nachmittag und schien auch niemanden nachhaltig zu stören. Schon gar nicht jene Musikfreunde, die hauptsächlich wegen der nach Maahn die Bühne enternden Künstlerin teilweise sogar aus dem fernen Bayern angereist waren.

Jule Neigel, gebürtige Russin und leidenschaftliche Handballspielerin, hatte ihr letztes Album bereits 1996 veröffentlicht und war seitdem auch aus der Konzertszene fast gänzlich verschwunden. Zuletzt nahm man sie eher als Texterin für Peter Maffay wahr; soeben hatte sie mit Ex-Dire-Straits-Mitglied David Knopfler ein englischsprachiges Duett aufgenommen. So horchten ihre treuesten Gefolgsleute republikweit auf, als sich herumsprach, daß es "Rockbeben"-Veranstalter Gunter Retelsdorf gelungen war, die 38jährige Soullady, mitsamt ihrer vielköpfigen Band (2 git, key, b, dr, perc, Chor) für seine Starparade des Deutschrock zu gewinnen. Mit dem nun einsetzenden aufbrausenden Jubel hatte die hübsche Schwarzhaarige wohl selbst nicht gerechnet. Die ersten Takte ihres 96er-Bluesrockers "Viel zu lang geliebt" waren gerade erklungen, schon stürmten die Fans dicht ans Absperrgitter und waren nicht mehr zu halten. Obwohl die feudale Erscheinung mit der höllisch heißen Stimme auf ihre noch heute beliebten Radiohits größtenteils verzichtete und neben drei bisher unveröffentlichten Songs ("Wir sind frei", "Our Love", "Wärst Du bei mir") vor allem auf persönliche Favoriten aus ihrer rund neunjährigen, von wechselndem Erfolg gekrönten Schallplattenkarriere zurückgriff, wurde die Rückkehrerin frenetisch gefeiert. Ob mitreißender Rhythm'n'Soul mit starken Blueswurzeln ("Sehnsucht nach Dir"), eher schlagerhafte Popmelodien ("Deine Tränen") oder amerikanisch anmutender AOR-Pop ("Alles, was Du brauchst") – Frau Neigel bewies, daß sie in den Jahren ihrer Bühnenabstinenz nichts verlernt hat. Sympathisch, locker, aber stets konzentriert, sang sich die klassisch ausgebildete Vollblutmusikerin durch ein knapp eineinhalbstündiges Programm, zu dessen siedendem Höhepunkt sie sich sogar an Zuccheros "Madre Dolcissima" heranwagte und auf ganzer Linie siegte. Jule und Band verließen daraufhin geschafft die Bühne, aber ohne die Wiederauferstehung ihres ersten und größten Hits "Schatten an der Wand" (1988) wollte man die Lady nicht von dannen ziehen lassen. Gemeinsam mit einem ihr zu Füßen liegenden Publikum gedachte sie über zehn Minuten lang ihres Einstiegs in die deutsche Popszene. Genau in diesem Punkt ist jedoch das einzige Manko ihres Auftritts festzumachen. Ganze zehn Lieder bekamen ihre treuen Anhänger zu hören. Oft zogen ihre (zugegebenermaßen phantastischen) Begleiter diese durch epische Soli unnötig in die Länge. So hörten wir kein "Nie mehr miese Zeiten", kein "So wie noch nie"; auch der "Rebell" mußte zu Hause bleiben. Musikalisch hat sich Jule Neigels Livecomeback garantiert gelohnt, allerdings hätten sich viele noch mehr gefreut, wenn sie statt ausufernder Versionen eher unbekannterer Songs kurze, kompakte Fassungen jener Lieder aufgeführt hätte, denen sie ihren immer noch bestehenden, hohen Status in Deutschlands Popszene verdankt.

Je später der Abend, desto mehr Musikfreunde fanden sich auf dem Festivalgelände ein. Selbst wenn sich die vom Veranstalter anvisierte Zuschauerzahl von sieben- bis achttausend zahlenden Gästen nicht erfüllt haben dürfte, befanden sich bestimmt weit mehr als 4000 Menschen vor der Bühne, als Heinz Rudolf Kunze, flankiert von seiner runderneuerten "Verstärkung", und provokativ bekleidet mit einem T-Shirt, das ein originäres "DDR"-Staatswappen sowie die Aufschrift "Ministerium für Staatssicherheit" zierte, gegen 19.30 Uhr loszurocken begann. Vor der Produktion seines letzten Studioalbums Rückenwind (drei Songs daraus kamen auch in Geesthacht zum Zuge), hatte sich der 48jährige Beinahe-Studienrat von seinem langjährigen Gitarristen, Produzenten und Co-Komponisten Heiner Lürig, der seit 1985 für den guten Sound vieler Kunze-Songs verantwortlich war, getrennt und sich mit blutjungen Instrumentalisten aus der Hamburger Studioszene zusammengetan, die auch seinen "Greatest Hits", die er in bester Spiellaune präsentierte, mehr als nur gut taten. Zwar griff HRK bei seinem 90minütigen Auftritt vor allem auf jene Klassiker zurück, die er bereits für seine letzte Tour herausgesucht hatte (und die in gleichem Arrangement auf der im Herbst 2003 veröffentlichten Doppel-Live-CD Dabeisein ist alles zu hören sind), und verzichtete Deutschlands sprachgewandtester Pop-Lyriker zudem auf seine legendären Zwischentexte. Davon abgesehen gelang es dem überzeugten Verächter von Coolness und Unredlichkeit selbstverständlich, die Zuhörer vom ersten Augenblick an mitzureißen. Manchen war es sauer aufgestoßen, daß HRK sogleich loslegte und auf eine Begrüßung der Anwesenden verzichtete; ein geballtes Feuerwerk aus Kunze-Evergreens entschädigte jedoch schnell für den Fauxpas: Mit Leib und Seele, Finden Sie Mabel, Draufgänger, Vertriebener, Meine eigenen Wege, Dies ist Klaus oder Alles was sie will. Was wollte man mehr? Kunze gelang auf seiner Reise durch die Untiefen der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten 20 Jahre die Balance zwischen radiotauglichen Rockschlagern und lyrisch widerborstigen Zeitgeistbeschreibungen. Natürlich spendete der Brillenträger aus Osnabrück im Zugabenteil erneut sein Herz einer unbekannten Schönen, bevor er erstmals seit über zehn Jahren seine kongeniale Übersetzung des Kinks-Klassikers Lola intonierte: "Lola lächelte nur / und faßte mich an / und sagte / Ich bin es längst / heut wirst auch Du ein Mann"... mit derlei Formulierungen hatte Kunze anno 1984 den ohnehin schon mehr als nur genialischen Wortwitz von Kinks-Chef Ray Davis noch weit übertroffen. Die Fans dankten diese Rückbesinnung auf jene Tage, als sich Kunze permanent im "Ausnahmezustand" (so der Titel seiner lyrisch brillantsten LP aller Zeiten aus dem Herbst 1984) befand, mit lauten "L-O-L-A - Lola"-Chören, die - glaubt man dem sichtlich glücklichen "Niedermacher" - bis nach Wedel, zumindest aber bis ins vornehme Blankenese zu hören waren.

Während die ETWAS-Musiker, mitsamt ihrer süßen Frontfrau Sydney, gelangweilt im VIP-Zelt saßen und sich den Magen vollschlugen, ohne auch nur einmal aufzublicken und in Anbetracht der munter rockenden Kunzes, Maahns und Neigels anzuerkennen, daß es auch vor ihrer Geburt schon ansprechende deutsche Rockmusik gab, bereitete sich alles auf den absoluten Höhepunkt vor. Uss Kölle am Rhing waren eigens BAP angereist. Freudig erregt durch den Vier zu Eins-Sieg des 1. FC gegen Saarbrücken am Nachmittag, sprang kurz vor Halbzehn ein hochmotivierter Wolfgang Niedecken auf die Bühne und konnte die erwartungsvollen Fans schnell in seinen Bann ziehen. Bei nicht wenigen bestand die Befürchtung, der Dylan-Fan aus der Kölner Südstadt und seine vier Neo-BAPs (Jürgen Zöller, dr, Werner Kopal, b, Helmut Krumminga, git, und Michael Nass, key) könnten den extrem gitarrenlastigen, um nicht zu sagen: dröhnenden Sound ihres letzten, nicht unumstrittenen und zudem oft schwerverdaulichen Albums "Sonx" auch "live" übertreiben und als Poser-Rocker-Parodie versagen. All diese Ängste lösten sich jedoch bald in Luft auf, selbst wenn sogar altehrwürdige BAP-Hymnen wie "Nemm mich mit", "Diss Naach ess alles drinn" oder "Ne schöne Jrooß" deutlich gitarrenorientiert, straight und trocken arrangiert waren, man ihnen aber gerade deshalb kaum anmerkte, daß sie teilweise schon bis zu 25 Jahre auf dem Buckel haben. Auch BAP boten einen bunten Strauß ihrer bekanntesten Melodien, wobei sich die vier eingestreuten aktuellen "Sonx" (der vom Kölner Photokünstler Carl-Heinz Hargesheimer inspirierte klassische Rockhymnus "Unger Krahnebäume", der vertrackte, krachende Marokko-Reisebericht "Rövver noh Tanger", die positive Mitsing-Hymne auf immerwährende Freundschaft "Wann immer Du nit wiggerweiß" sowie der düstere Album-Prolog "Wie, Wo un Wann?") perfekt in die Kollektion allseits bekannter Ewigkeitsrocker einfügten. Es gab ein langersehntes Wiederhören mit dem leicht charleston-angehauchten Kabarettschmankerl "Ens em Vertraue" (1981) und sogar Niedeckens phänomenaler Dylan-Bearbeitung "Wo bess Do hück Naach, Marie" ("Absolutely sweet Marie"), die er vor zehn Jahren für sein zweites Soloalbums "Leopardefell" aufgenommen hatte. Das Publikum sang Wort für Wort die schwierigsten Vokabeln in Cockney-Kölsch mit, als sei Geesthacht ein Vorort der Rheinmetropole. Niemand - garantiert kein einziger der inzwischen rund 5000 Fans – vermißte Ex-BAP-Gitarrero Klaus "Major" Heuser auch nur eine Zehntelsekunde lang; Niedecken kommunizierte - wie es nur er in diesem unserem Lande vermag – durch seine Lieder auf intimste Weise mit dem Publikum. Obwohl sich in seinem noch immer monumentalen Haarschopf die ersten grauen Strähnen zeigten, merkte man dem gewitzten BAP-Häuptling seine fast 54 Jahre kaum an. Ihm typischen Rückblicken in seine Jugendzeit ("Nix wie bisher") folgten noch heute gänsehauterzeugende Balladen ("Helfe kann Dir keiner") und (leider) weiterhin aktuelle Politstatements gegen Gewalt und Neonazismus ("Kristallnaach"). Dann war es soweit und der Rezensent versank in Erinnerungen: Vor genau 20 Jahren, am 22. September 1984, hatte ich, kaum 13jährig, erstmals die Ehre, ein Konzert meiner kölschen Heiligtümer zu erleben. Kurz zuvor hatte ich mich nicht nur in Melanie aus der fünften Klasse unserer Schule verliebt, sondern auch in "Alexandra – Nit nor Do", den wohl stimmungsvollsten Song, den BAP jemals geschrieben haben, und zusätzlich eines der intensivsten, vielschichtigsten und aussagekräftigsten Liebeslieder der deutschen Rockgeschichte, das als kreativer Höhepunkt von BAPs 84er-LP "Zwesche Salzjebäck un Bier" galt. Damals, im Stadtparkrund, schloß ich die Augen, als Wolfgang jenen Text intonierte, der ihm eines düster-romantischen Februarnachmittags im Kölner Römerpark eingefallen war, als er auf einer Bank saß, über seine brüchige Ehe sinnierte, und immer wieder ein kleines Mädchen auf einem Fahrrad an ihm vorbeifuhr und ständig rief: "Alexandra – wo bist Du?". Ein weit ausholendes Solo, damals noch von "Major" gespielt, führte mich am 22. September 1984 mental direkt in die Arme Melanies ... Man mag es kaum Glauben: Auch 20 Jahre danach hat das dunkel-hoffnungsvolle BAP-Epos nichts von seiner Magie verloren. So war es (bestimmt nicht nur) für den Rezensenten ein Hochgefühl, als Major-Nachfolger Helmut Krumminga "Alexandra" mittels eines dramatischen Solos immer radikalere Emotionalität und Eindringlichkeit verlieh, die Augen zu schließen und sich in fernste Sphären der Gefühle zu träumen (wobei, darauf weist der Rezensent hin, er diesmal nicht in Richtung einer längst aus seinem Herzen entschwundenen Melanie schwebte, sondern, man möge ihm dies verzeihen, nur ein paar Meter weiter ins VIP-Zelt, wo ETWAS-Sängerin Sydney weiterhin ihrem Hunger freien Lauf ließ, als sei die "DDR" gerade erst gestern zusammengebrochen ...).

Weit mehr als eine Viertelstunde lang huldigte Niedecken der ihm übrigens niemals persönlich unter die Augen gekommenen "Alexandra" in einer Frische, als hätte er den Song zum ersten Mal "live" aufgeführt, bevor mit "Verdamp lang her" eine gelungene, über zweistündige Rückschau auf 25 Jahre BAP ihrem Ende entgegenschritt. Die fragile Ballade "Do kanns zaubere", der unwahrscheinlich schnelle "Waschsalon" oder das absichtlich an die BAP-Vorbilder Rolling Stones angelehnte "Absolut ziellos" hielten die Stimmung im Zugabenteil am Kochen. Plötzlich stimmte Niedecken seine kölsche Fassung eines wohlbekannten David-Bowie-Klassikers an: "Mir sinn dann Helde / für eene Daach"... und ein monumentales Feuerwerk ließ alle Anwesenden sich zumindest ein paar Minuten lang wie echte "Helden" fühlen. Konzertbesucher wie Musiker strahlten. Gerade, weil sich die Zuschauerzahlen in Grenzen hielten, war es jedem Fan möglich, so dicht wie selten zuvor an seine Idole heranzukommen. Veranstalter Retelsdorf sollte sich durch das mangelnde Interesse nicht entmutigen lassen. Die Popheroen der heutigen Zeit dürften bereits in ein, zwei Jahren kaum noch einen Fan zu einem Auftritt anlocken. BAP, Kunze und Kollegen hingegen sind immer noch für ein paar tausend überzeugte "Männer (und Frauen) des vorigen Jahrhunderts" gut. Die qualitativ hochwertige Besetzung von "Rockbeben 2004" schreit geradezu nach einer Wiederholung im nächsten Jahr!

Holger Stürenburg, www.hithaus.de, 22. August 2004

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