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2001

"Meine Musik soll man beim Sex hören"

Sein Vater war in der SS, aber seine Ahnen heißen Dylan und Townsend

Heinz Rudolf Kunze, 45, wurde im Auffanglager Espelkamp geboren. Mit Dein ist mein ganzes Herz hatte er 1985 seinen größten kommerziellen Erfolg. Seitdem versucht der studierte Germanist und Philosoph, der als "Oberlehrer des deutschen Musikgeschäfts" gilt, seine Fans durch intelligenten Deutschrock, Erzählungen und Gedichte auch etwas klüger zu machen.

Wie wichtig sind Ihnen Vorbilder, Herr Kunze?

Ich habe nicht sehr viele.

Aber Sie verehren Randy Newman.

Abgesehen davon, daß ich ihn persönlich kenne, sind wir uns auch sehr ähnlich. Wir sind Autoren und Erfinder, obwohl wir als Personen ziemlich langweilig sind. Newman sitzt in einem kleinen Haus in Los Angeles und schaut mit seinem Sohn am liebsten Fernsehen. Bis er aufsteht und zu schreiben beginnt. Mir geht das auch so.

Sie wohnen in der Nähe von Hannover. Ein idealer Ort, um seine Tage vor dem Fernseher zu verbringen.

Da ich sehr viele Platten mache und regelmäßig auf Tour gehe, bin ich selten zu Hause. Aber wenn es sich ergibt, sitze ich in meinem Arbeitszimmer und gucke so lange in die Glotze, bis mir etwas einfällt. Das Modell "Thomas Mann" funktioniert bei mir nicht. Vor einem leeren Blatt zu sitzen und es vollzuschreiben, fände ich zwar gut, aber das kriege ich nicht hin. Zu den wirklichen Privilegien meines Berufs gehört, daß man spät aufstehen darf. Vor zehn Uhr komme ich nicht aus dem Bett. Ab elf bin ich in meinem Zimmer, lasse Musik laufen, Fernseher ohne Ton, nur wenn irgendwas meine Aufmerksamkeit erregt, drehe ich den Ton auf.

Schirmt Ihre Frau Sie vor dem Alltag ab?

Ja, macht sie. Sie hält das wirkliche Leben von mir fern, so daß ich in meiner Seifenblase spielen darf.

Sie waren 1980 Referendar, als Sie Ihren ersten Plattenvertrag unterschrieben. Bereuen Sie es manchmal, nicht Lehrer geworden zu sein?

Ich wollte nie Lehrer werden. Daß ich das Staatsexamen gemacht habe, war eine Notlösung. Mein Professor hatte mir eine Assistenten-Stelle an der Uni angeboten, doch dann konnte er sein Versprechen nicht halten, weil sie gestrichen wurde. Das Lehrer-Examen machte ich eigentlich nur, um überhaupt einen Abschluß zu haben – in der festen Absicht, etwas anderes anzufangen. Ich wäre gerne an der Universität geblieben.

Sie haben immer wieder betont, daß Ihre Texte sich gegen "klebrige Weinerlichkeit" und "Betroffenheit" wenden. Was hat Ihre Abneigung ausgelöst?

Man muß hier zu Land eine riesige Aufräumarbeit leisten. Der größte Bluff oder die größte Schwäche der so genannten Liedermacher bestand darin, daß sie ungeheuer pathetisch waren und es unter ihnen viele gab, die sich nicht auf die Schippe nehmen konnten. Die Fähigkeit zur Distanz ging ihnen vollkommen ab. Davon wollte ich mich natürlich immer absetzen. Mich hat die trockene Genauigkeit, mit der anglo-amerikanische Musiker wie Dylan, Ray Davis oder Newman Dinge zu beschreiben pflegten, geprägt.

Sie sind in den 70er Jahren groß geworden. Denken Sie gerne an diese Zeit zurück?

Ich fühlte mich wie im Exil. Meine Eltern stammten aus Guben und waren in den Westen übergesiedelt. Sie haben sich nie in Osnabrück zu Hause gefühlt. Wir haben eine deutsch-deutsche Existenz geführt, zweimal im Jahr besuchten wir meine Oma, die in Köpenick lebte. Heinrich Böll hätte bestimmt eine Menge über unsere Familie schreiben können. Zum Beispiel wie mein Vater, der bei der Waffen-SS gewesen war, allmählich milde und altersweise wurde – und vergeben hat.

Wem hat Ihr Vater denn vergeben?

Er saß in dem letzten Zug, der aus Russland mit Kriegsgefangenen nach Deutschland kam, nach elfjähriger Gefangenschaft. Als Mitglied der Waffen-SS hatte Stalin ihn dreimal zum Tode verurteilt. Bei seiner Entlassung wurde ihm offiziell mitgeteilt, daß er seine Strafe verbüßt hätte und in seine Heimat zurückkehren dürfte. Man versprach ihm sogar, ihm keine Steine in den Weg zu legen, wenn er sich am Aufbau des Sozialismus beteiligen und SED-Mitglied werden wollte. Aber er traute diesem Angebot nicht und ist in den Westen gegangen.

Hat Ihr Vater über seine Vergangenheit geredet?

Oh, ja. Viel. Ich habe genau das gegenteilige Problem anderer Nachkriegskinder: Die meisten beschweren sich ja, daß ihre Väter nichts erzählt haben. Mein Vater erzählte mir alles. Damit hat er mich als Gesprächspartner zwar geehrt, indem er mich aufwertete, aber er hat mir auch viel aufgeladen. Ich habe durch ihn Dinge von der Ost-Front und aus dem Gefangenenlager erfahren, die unerträglich sind. Er mußte es loswerden.

Er hat Sie zum Mitwisser gemacht?

Mein Vater hatte nichts zu verbergen, da er stets an der Front eingesetzt und nicht etwa KZ-Wächter gewesen war. Mein Bruder, der Geschichtsprofessor in Mainz ist, und ich, haben das akribisch recherchiert. Wir hätten nie wieder ein Wort mit ihm gewechselt, wenn er uns belogen hätte. Er war mit 17 vor dem Abitur davongelaufen, weil er in allen Fächern außer Sport schlechte Noten hatte. Er meldete sich freiwillig zur Waffen-SS, wo er immer im vordersten Graben kämpfte. Mit 19 geriet er dann schon in Gefangenschaft, als Sturmbann-Führer, weil die anderen alle gefallen waren. Er hat den Film "Steiner – Das Eiserne Kreuz" gewissermaßen selbst erlebt. Was ihn auszeichnet, ist, daß er nach elf Jahren Sibirien nach Hause kam und keinen Haß auf die Russen mitbrachte. Als professioneller Soldat sagte er allerdings: Ich mag sie ganz gern, aber noch lieber hätte ich sie besiegt.

War Ihr Vater für Sie noch eine Autorität?

Die Autorität meines Vaters wurde schon dadurch infrage gestellt, daß meine Mutter das Sagen hatte. Ein John Wayne des Dritten Reiches, ein Held der Totenkopf-Division, aber zu Hause hatte er wenig zu melden.

In Deutschland hat sich die Rockmusik aus dem Widerstand gegen die Nazi-Generation entwickelt. Hatten Sie denselben Antrieb?

Ich war zu jung für die Apo-Generation. Den Impuls von Meinhof und Baader teilte ich nicht, was ein wenig mein Schicksal geworden ist. Denn für Punk war ich andererseits schon wieder zu alt. Dennoch besaß beides meine Sympathie. Ich weiß noch, obwohl ich selten Streit mit meinem Vater hatte, stritten wir doch heftig, als ich ihm gestand, daß ich Gudrun Ensslin auch versteckt hätte. Der Gestus, daß man sich mit dem Rest der Welt anlegt, und diese Traurigkeit, erkennen zu müssen, daß die Arbeiter sich einem nicht anschließen werden, ging mir nahe. Das Mitleid hätte überwogen, sodaß ich sie nicht verraten hätte.

Welche Erinnerung haben Sie an den "deutschen Herbst" 1977, als Baader, Raspe und Ensslin in Stammheim starben?

Ich bekam damals für ein Referat, das ich über Musils "Mann ohne Eigenschaften" gehalten hatte, eine drei. Zum ersten Mal. Die gehört zu den schlimmsten Niederlagen meines Lebens.

Sie wollten immer der Beste sein?

Da wir anfänglich sehr häufig umzogen, war ich immer der Neuzugang, der Fremde. Meine Eltern sprachen es nicht aus, aber sie haben mir vermittelt, daß ich mich durchbeißen muß. Es war interessant, meinen ersten Gitarristen kennen zu lernen, der aus sehr wohlhabendem Hause stammte. Der machte Musik mit einer wunderbaren dandyhaften Attitüde, nicht weil er mußte, sondern aus reinem Interesse. Ich mußte.

An wem haben Sie sich damals orientiert?

An Pete Townsend. Er hat mich als 13-Jähriger vergewaltigt. Und die erste sexuelle Erfahrung vergißt man nie. The Who mit Keith Moon am Schlagzeug waren die beste Band der Welt, einfach überwältigend. Ich bin Townsend einmal leibhaftig begegnet, in den Kulissen einer Fernsehsendung. Zuerst bekam ich keinen Ton heraus vor Ehrfurcht. Dann stammelte ich etwas davon, wie sehr er mein Leben verändert hätte, und daß er sowas aber sicher immer wieder zu hören bekäme. Aber er legte mir seinen Arm auf die Schulter und sagte: "Go out, son. Do it!"

Über Dylan sagten Sie einmal, er habe mehr politischen Einfluß besessen als Richard Nixon. Finden Sie das erstrebenswert?

Ich wünsche mir, daß meine Musik nicht nur mit großer Konzentration und Textblatt auf den Knien gehört wird, sondern auch beim Duschen und beim Geschlechtsverkehr. Ich wäre gern ein Hans-Dieter Hüsch mit E-Gitarre. So würde ich gerne alt werden: als Geschichtenerzähler, auf den man sich verlassen kann.

Kai Müller, Der Tagesspiegel, 23. Januar 2001

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