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2000

Imagine John Lennon

Heute vor 20 Jahren wurde John Lennon vor seiner New Yorker Wohnung von einem geistig verwirrten Attentäter erschossen. Heinz Rudolf Kunze, einer der erfolgreichsten deutschen Rockmusiker, erinnert sich an den einstigen Mitbegründer der Beatles.

Als ich die Nachricht im Radio hörte, fiel mir im wahrsten Sinne des Wortes der Griffel aus der Hand. Ich konnte erst einmal eine Stunde nichts machen. Meine Mitbewohner in der Hannoveraner WG, angehende Lehrer wie ich, waren geschockt, wie tief mich John Lennons Ermordung traf. Der Sänger und Gitarrist war für mich eine führende Kraft der Rockmusik. Und das nicht nur, weil meine erste Platte von den Beatles war. Meine Oma hatte mir "Sergeant Peppers Lonely Heartclub Band" 1967 zum Geburtstag geschenkt.

Für John Lennon empfand ich immer mehr Interesse als für Paul McCartney, seinen eher glatten, konfliktscheuen Kollegen. Lennon war gebrochener, nachdenklicher, und er hat immer ein Stück Agression vermittelt, gerade auch in der Zeit nach den Beatles. Viele, die heute über diese Jahre in New York reden, erinnern sich an den Song "Imagine". Ich halte die erste Platte mit der Plastic Ono Band für viel wichtiger. Dieser Urschrei in "Mother", in der das Leiden über den Tod der Mutter zum Ausdruck kommt, das war früher Punk in einer Zeit der Edelpop-Produktionen. Die Songs des John Lennon, der eine traumatische Kindheit hatte, sind eine beeindruckende Art der Selbstherapie. Daß man über etwas anderes singen kann als über Mädchen und Autos, hatte Lennon schon frühzeitig Kollegen wie den Kinks oder The Who vermittelt.

Meine Jugend war zwar weit weniger problematisch als die Kindheit von John Lennon. Trotzdem: Seine Songs halfen mir ein Stück weit, der provinziellen Enge zu entfliehen. Dieser Künstler hat mich nie ganz verlassen. Der Einfluß, den er auf meine eigene Arbeit ausübt, besteht in der Offenheit, mit der Lennon Themen angegangen ist. Für ihn gab es keine Tabus, er konnte über alles singen und dabei politisch unglaublich direkt sein. Er schrieb dazu Melodien, die heute noch tief unter die Haut gehen. Und er war ein großartiger Rock'n'Roller: Chuck Berry hätte stolz auf ihn sein können.

Es gab und es wird in unserer schnelllebigen Zeit niemanden geben, der in seine Fußstapfen treten kann. Auch deshalb nicht, weil Künstler feststellen mußten, daß sie politisch nichts bewegten und sich anpaßten. Was aus John Lennon geworden wäre, hätte er länger gelebt, ist eine hypothetische Frage. Vielleicht so etwas wie ein globaler Heinrich Böll? Auf jeden Fall wäre er ein guter Mensch geblieben.

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