Benjamin von Stuckrad-Barre und Heinz Rudolf Kunze (Foto von Peter Badge)

2000

Pop ist, wenn man etwas glaubt, was nicht stimmt

Diskurs der Denker: Deutschrocker Heinz Rudolf Kunze (43) diskutiert mit dem Autor Benjamin von Stuckrad-Barre (24) über Pop, Pur und Politik.

ME/S: Heinz Rudolf, Benjamins Verlag hat dir vor ein paar Tagen zwei seiner Bücher geschickt. Hättest du die auch gekauft?

Kunze: Nachdem ich sie zu lesen begonnen habe und sie mir durchaus nicht mißfallen, kann ich mir das schon vorstellen. Ich finde den Ton interessant und amüsant.

von Stuckrad-Barre: Viel besser ist es, Bücher und Platten käuflich zu erwerben, als ständig Gratisexemplare aus der Post zu fischen. Gekauftes behandelt man automatisch würdiger.

ME/S: Für welches Buch hast du zuletzt Geld ausgegeben?

Kunze: 50 Mark für "Abfall für alle" von Rainald Götz.

von Stuckrad-Barre: Ein Meisterwerk!

Kunze: Ich findes es unglaublich schlecht, aber ich lese es gnadenlos bis zum Ende. Weil ich dafür bezahlt habe – und weil ich herausfinden will, warum so ein Dummkopf einen Vertrag bei Suhrkamp haben kann. Ich kann nicht verstehen, daß ein Mensch, der nicht in der Lage ist, zwei Sätze in Folge zu formulieren, ohne dabei sieben Fehler zu machen, noch immer als alt werdender Junger Wilder durchgeht.

von Stuckrad-Barre: Quatsch. Das Buch ist großartig. Hast du vom selben Autor "Rave" gelesen?

Kunze: Ja, das ist das Schlimmste, was ich je in Deutschland gelesen habe. Geseier. Götz bildet den Szene-Schwachsinn eins zu eins ab, ohne ironischen Abstand zu gewinnen. Das reicht nicht für Literatur.

von Stuckrad-Barre: Diese Argumentation verstehe ich nicht. Götz montiert doch alles: Fernsehen, Pop, Werbung, Literatur und Nachtleben-Sprech. Es ist unglaublich, was er jeden Tag scannt und gleichwertig nebeneinander stellt. Die Sachen ernst und beim Wort zu nehmen – das ist doch eine starke aufklärerische Arbeit. Aus so einer Lektüre gehe ich geschrubbt raus.

Kunze: Ich will von einem gewissen Standard des handwerklich Gekonnten bei Sprache nicht herunter. Du meinst also, daß diese objektiv mißlungenen Sätze geplant sind?

von Stuckrad-Barre: Was ist denn ein objektiv mißlungener Satz? Das gibt es praktisch nicht. Dann gäbe es ja auch schlechte Musik, schlechte Kunst.

Kunze: Natürlich gibt es die.

von Stuckrad-Barre: Wie ist die? Ist Modern Talking schlecht? Ja. Aber nicht schlecht gemacht. Es weiß um sein Ziel. Die Latte hängt weit unter der Erde, aber sie hängt da irgendwo.

ME/S: Marcel Reich-Ranicki stellt an diesem Punkt die alles entscheidene Frage: "Ißßt eßß denn überhaupppt ein Bucchh?"

von Stuckrad-Barre: Ich finde es falsch zu sagen, Modern Talking sei keine Musik. Es ist Musik, die mich negativ berührt – was natürlich auch eine Leistung ist. Mir fällt inzwischen auch keine Waffe gegen Dieter Bohlen mehr ein. Vielleicht muß man da viel fundamentaler werden und sagen: scheiß Land.

ME/S: In der bildenden Kunst gibt es die Unterscheidung zwischen Kunst und Kunsthandwerk: das eine hängt in der Galerie, das andere endet auf dem Adventsmarkt. Vielleicht haben wir nur keinen Begriff für musikalisches Kunsthandwerk?

Kunze: Im Fall der Musik ist das eine Schwäche. Die Popmusik ist ein völlig unübersichtliches Feld, auf dem es Menschen, die eigentlich gar nichts können, sehr weit bringen können.

von Stuckrad-Barre: Das erinnert mich an die rockistische Diskussion zu Beginn der publizistischen Wahrnehmung von Technomusik. Da hieß es auch immer: "Die sitzen nur an ihren Geräten, drücken ein paar Knöpfe – das kann meine Oma auch." Im Schwarzwald hört man das noch immer. Auch in Hamburg zuweilen. Später kamen dann Journalisten, die den DJ bei seiner Arbeit beobachten, und sie sahen: Der macht was mit seinen Händen, also scheint das doch ein Handwerk zu sein. Das ist alles gottlob Vergangenheit. Was zählt, ist die Qualität des Ergebnisses – ein eindeutiger Fortschritt.

Kunze: Hat es für deine Generation eigentlich Musik gegeben, die noch traumfähig war?

von Stuckrad-Barre: Wasfähig?

Kunze: Dich zu Träumen anregend. Oder war das alles schon sehr belastet, und du wolltest nur noch abhotten? Gibt es für dich ein Erlebnis, wie es für mich Genesis 1973 mit "Selling England By The Pound" war?

von Stuckrad-Barre: Der Tatbestand "Pop" ist für mich erfüllt, wenn ich auf etwas reinfalle. Wenn ich etwas glaube, was nicht stimmt.

Kunze: Du weichst aus. Gibt es für dich noch ein Abfliegen zu Musik, ein Einlassen auf eine märchenhafte, utopische Welt?

von Stuckrad-Barre: Wenn ich eine Robbie-Williams-Platte höre, breche ich zusammen vor Freude

Kunze: Ist das dann auch dieses wagnerianische Gefühl?

von Stuckrad-Barre: Das habe ich zum Beispiel bei Kruder und Dorfmeister. Dieses Gefühl muß es geben. Sonst könnten wir alle sterben.

ME/S: Das gibt es für jeden Geschmack. Wer's mag, fliegt bei einem Pur-Konzert ab.

von Stuckrad-Barre: Da muß man soviel an Dreck in Kauf nehmen, puh!

Kunze: Ich habe im Sommer als Vorband ein paar Konzerte von Pur begleitet und das Publikum sehr konzentriert beobachtet. Das sind genau die Menschen, für die in der Rockpresse nie geschrieben wird. Die große, klassische, schweigende Mehrheit, Ich habe dort viele Menschen gesehen, denen Pur sehr wichtig war. Das muß man als Beschreibungsgrundlage erst mal hinnehmen.

von Stuckrad-Barre: Ist Pur schlechte Musik?

Kunze: Pur ist handwerklich sehr gekonnte Musik. Mir ist es etwas zu lieblich, zu vorsichtig.

von Stuckrad-Barre: Sind die Texte nicht eine evangelische Zumutung?

Kunze: Was soll ich dazu sagen, wenn der Sänger sich als mein Schüler bezeichnet?

von Stuckrad-Barre: Darf ich annehmen, daß nicht alles Pur-Platten ganz vorn im Kunzeschen CD-Wechsler stehen?

Kunze: Da gehst du richtig.

Artikelfoto (Foto von Peter Badge)
Wortakrobaten aus zwei Generationen: Benjamin von Stuckrad-Barre (links) und Heinz Rudolf Kunze im Berliner Hotel "Savoy". Bildmitte: ME-Gesprächsmoderator Peter von Stahl.
von Stuckrad-Barre: Und daß die Entscheidung, dort als Vorband zu spielen, eher mit Blick auf den Markt, denn mit dem Blick in den Plattenschrank gefällt wurde?

Kunze: Auch da gehst du richtig.

von Stuckrad-Barre: Okay. Aber die völlig berechtigte Kritik muß merken, daß sie nichts bewirkt. Die langweiligste Form des Musikjournalismus ist ein Pur-Verriß. Denn Hartmut Engler wird trotzdem wieder eine Drecksplatte herausbringen, und die wird wieder acht Trilliarden Stück verkaufen.

Kunze: Dennoch würde ich sagen: Hartmut Engler verwaltet die uns gegebene und uns bekannte Welt verantwortungsvoll.

von Stuckrad-Barre: Das finde ich nicht. Ein Tu-Wort wie "seelenaneinanderreiben" möchte ich nicht hören. Das ist ekelhaft. Dagegen muß man vorgehen, solange man lebt.

ME/S: Gibt es auch deutsche Musik, gegen die du nicht vorgehst?

von Stuckrad-Barre: Element Of Crime – ja, man muß diese Wörter benutzen – betrifft mich. Tocotronic in Auszügen. Blumfeld.

Kunze: Das erste Album.

von Stuckrad-Barre: Nein, besonders auch das neue mit all seinen Irrtümern. Ich finde es sexy, sich künstlerisch zu irren.

Kunze: Auf jeden Fall. Davon lebe ich!

von Stuckrad-Barre: Was war denn deiner Meinung nach ein richtiger Irrtum in deiner Karriere? Was war echt Scheiße? Die Single Du bist nicht allein, ist sie dir heute peinlich?

Kunze: Das ganze Album war ein Irrtum. alter ego war die einzige Platte von meinen 19, die ich im Rückblick nicht rechtfertigen kann.

von Stuckrad-Barre: Das kann man elegant zertrümmern, indem man etwas Neues dagegen stellt. Man ist ja nie fertig. Es ist nie alles erreicht, und sobald dein neues Produkt fertig vor dir liegt, weißt du schon wieder, was daran schlecht ist.

ME/S: Und was war der beschissenste Text, den du jemals geschrieben hast?

von Stuckrad-Barre: Es gab ganz viele Sachen, die mich schon kurz nach dem Schreiben wahnsinnig gelangweilt haben. Schlimm war auch eine Lesung bei einer Gala letztes Silvester. Ich kam um zehn Uhr abends und sah, daß der Saal voll war mit Bausparern im absoluten Lou-Bega-Feigenschnaps-Endstadium. Diese Lesung, die ich dennoch gegeben habe, war das Schlimmste, was ich im Leben gemacht habe.

ME/S: Das gehört zum Leben eines Popstars. Ein eigentümliches, altes Wort, eigentlich. Wir benutzen es noch immer, obwohl es aus einer Zeit stammt, als man noch guten Gewissens "groovy" sagte.

Kunze: Oder "dufte" oder "knorke".

von Stuckrad-Barre: Es gibt kein besseres Wort, also brauchen wir kein anderes.

ME/S: Die damit Bezeichneten haben sich aber völlig verändert: Skispringer werden zu Popstars hochgejazzt. Jetzt sogar Schriftsteller. Du gibst Lesungen, bei denen junge Menschen hysterisch kreischen, obwohl du nicht singst oder Platten auflegst.

von Stuckrad-Barre: Es ist doch klasse, wenn sich Menschen für meine Lesung extra hübsch anziehen und sich am Gebotenen erfreuen und das auch zeigen. Das ist nicht das Hauptziel meiner Arbeit, aber es geht mir auch darum, so viele angenehme Menschen wie möglich zu erreichen. Deshalb muß man bestimmte Dinge mitspielen, Anleihen beim Pop machen.

ME/S: Heinz Rudolf, ist Benjamin ein Popstar?

Kunze: Sogar Jürgen Fliege antwortet auf die Frage, ob er ein Popstar sei, mit einem klaren "Ja". Ich selbst fasse den Begriff gerne etwas enger. Benjamin ist ein populärer Autor, was ich ihm gönne. Aber "Popstar" ist für mich ganz klar musikalisch definiert.

von Stuckrad-Barre: Die Ausweitung des Begriffs kommt ja von allem daher, daß sich inzwischen nachweislich alle beim Pop bedienen - bis hin zur Werbung und Politik. Deshalb ist Gerhard Schröder ein Popstar. Aber es nützt ja nichts. Man fällt ja dadurch in keine andere Sozialversicherungsklasse. Man muß ja trotzdem immer nachlegen. Ob ich Popstar bin oder nicht: Mein nächstes Buch muß ich dennoch schreiben.

ME/S: Könnten wir trotzdem versuchen, den musikalischen Jahresrückblick abzufeiern? Was waren für euch die Platten des Jahres?

von Stuckrad-Barre: Alle Kritiker wählen in diesen Rückblicken immer so unglaublich – wie Westbam sagen würde – interessantristische Musik aus, statt die Platten, die sie am Selbstmord gehindert haben. Ich sage: "My Love Is Your Love" von Whitney Houston, dieser nun wirklich ekelhaften Frau, ist für mich einer der Songs des Jahres.

ME/S: Ist das alles?

von Stuckrad-Barre: Ich hätte mich gefreut, wenn alle umgefallen wären, als die Abba-Singles-Box erschienen ist. Aber niemand außer mir fiel um. Benjamin von Stuckrad-Barre (Foto von Peter Badge)Ansonsten habe ich mir vorhin eine Liste geschrieben mit Platten, deren Erscheinen 1999 mich erfreut hat: Pet Shop Boys, Chemical Brothers, Element Of Crime, Blumfeld, Tocotronic, Echt, Fanta 4, Freundeskreis, Blur, Supergrass, Travis, Scritti Politti, Luscious Jackson, Pop 2000, Terranova, Moby, The Auteurs, Pavement, Texas, Ben Folds Five, Muse, Nightmares On Wax, Underworld, Air, Mr. X & Mr. Y und Cibo Matto.

Kunze: Wie kann man als intelligenter Mensch Abba lieben? Gib mal die Liste rüber ... Davon ist mir vieles unbekannt, und das, was ich kenne, ist mir nicht so aufgefallen. Bis auf Pavement. Ohne die Chance zu haben, lange nachzudenken, würde ich ergänzen: die neue The Fall und "Delta Flora" von Hughscore. Was ich aber natürlich erwähnen muß, ist "Bad Love" von Randy Newman. Nach elf Jahren Pause und den vorherigen Alben, dachte ich, er könne seinen früheren Glanzstücken nichts mehr hinzufügen. Aber er konnte seine Stärken derart bündeln, daß er regelrecht davon erschlagen wurde. Es ist so ein bitteres Protokoll eines älter werdenden Mannes, der gnadenlose Dinge sagt über die Sehnsucht nach Liebe und den Verlust der eigenen sexuellen Attraktivität.

ME/S: Mit seinen 24 Jahren nicht gerade die Hauptthemen von Benjamin ...

von Stuckrad-Barre: Ich finde Randy Newman toll. Aber ich habe in diesem Jahr auch ein unglaubliches Erweckungserlebnis mit deutschem HipHop gemacht. Die Fanta Vier fand ich immer schon gut, aber was nach ihnen kam, erschien mir zumeist ärgerlich. Als ich jetzt 5 Sterne Deluxe, Absolute Beginner und Freundeskreis gehört habe – toll, genial, vonnöten!

Kunze: Im Grunde war das eine ganz logische Entwicklung. Mir war immer klar, daß sich die deutsche Sprache für HipHop eignet, und ich habe darauf gewartet, daß eine Musik wie diese, die so dominant wie keine andere auf dem Rhythmus basiert, die deutsche Sprache herausfordert. Doch nicht alle Sprachspiele erfüllen auch das zweite Kriterium. Das erste: Es reimt sich. Das zweite: Es bedeutet was.

von Stuckrad-Barre: Nein. Was ist Bedeutung? Eine Botschaft?

Kunze: Etwas zu transportieren, was Sinn macht.

"Chris Rea würde ich nicht einmal – selbst wenn das ginge – mit dem Enddarm anhören"
Benjamin von Stuckrad-Barre
ME/S: Ist es nicht auch sehr deutsch, wenn bei dir nach dem Reimen sofort der Sinn kommt?

Kunze: Ich finde, das ist in jeder Sprache die Frage, die sich stellt. (steht auf und geht zur Toilette).

von Stuckrad-Barre: Jetzt kommt mein Solo, und was macht Kunze? Er geht aufs Klo. Was den Sinn betrifft: Der muß vor dem Reim kommen. Heinz war nur zu schüchtern, das zu sagen.

ME/S: Bei Xavier Naidoo zum Beispiel scheint der Sinn tatsächlich über allem anderem zu stehen.

von Stuckrad-Barre: Für mich waren seine Texte immer ekelhafter, esoterisch aufgeladener Quatsch. Aber "Eigentlich" hat mich mit all seinem Pomp voll erwischt. Ich habe mir sofort die Single gekauft. Das ist ohnehin ein geiler Vorgang, sich CD-Maxis zu kaufen: 13 Mark – das lohnt sich überhaupt nicht, ist aber ein Riesenspaß und ein tolles Bekenntnis, einen Song zu kaufen.

Kunze (kommt wieder zurück): Seid ihr immer noch bei der Sinnfrage?

ME/S: Nein, bei Xavier Naidoos Sinn des Lebens. Der meint ernsthaft, Amerika ist Babylon und geht demnächst unter.

von Stuckrad-Barre: Was ich übrigens auch hoffe. Ich bin gegen Amerika. Aber das führt zu weit.

Kunze: Wie oft warst du drüben?

von Stuckrad-Barre: Kein einziges Mal. Und ich weigere mich, jemals dorthin zu fliegen.

Kunze: Benjamin, dann darfst du auch nicht mitreden.

von Stuckrad-Barre: Natürlich nicht. Aber man darf ja auch nicht über Modern Talking reden, wenn man keine Platte von ihnen zu Hause hat. Man darf es eben doch.

ME/S: Benjamin, du gehörst einer Generation an, der die Heftigkeit des Ausdrucks werter erscheint als die Wahrhaftigkeit des Inhalts.

von Stuckrad-Barre: Blödsinn! Totaler Quatsch.

Kunze: Wer jemals in Amerika gewesen ist, kommt von diesem Erlebnis irgendwie verstört zurück. Seine Werturteile sind erschüttert. Ich war jetzt zwölf Mal drüben. Das, was du sagst, darfst du als schreibender Mensch nicht stehen lassen. Um Gottes Willen! Das ist borniert!

von Stuckrad-Barre: Das ist natürlich wahnsinnig borniert. Aber anders als mit diesen Ausschlußkriterien kann man die Welt gar nicht erfassen. Ich habe eher das Gefühl, ich muß noch sechs Mal nach Budapest fahren. Ich blende die USA aus, um Portugal kennen lernen zu können. Es geht um die positive Leidenschaft, darum, sich mit Dingen, die einen nicht interessieren, nicht aufzuhalten. Ebenso in der Musik – ich kann mir doch nicht alles anhören. Chris Rea würde ich mir nicht einmal – selbst wenn das ginge – mit dem Enddarm anhören.

ME/S: Du blendest Dinge wie USA oder Hartmut Engler aus. Würdest du gern auf den roten Knopf drücken, der sie alle zum Verschwinden bringt?

von Stuckrad-Barre: Nein, das wäre auch eine extrem faschistische Idee. Hartmut Engler sollte es nicht geben, aber es gibt ihn. Also muß ich auf ihn reagieren, weil ich es zu meinem Beruf gemacht habe, auf die Welt zu reagieren. In der Form von Text. Vielleicht dann auch mal ein Grund, doch nach Amerika zu reisen, später.

ME/S: Heinz Rudolf, obschon Altlinker und Ex-Sozi, hat während des Wahlkampfes nie Arm in Arm mit Gerhard Schröder auf einer Bühne "Wind of Change" gepfiffen.

Kunze: Ich habe mich vor etwa acht Jahren von der SPD zurückgezogen. Björn Engholm ist ein sehr enger Freund von mir, und ich habe seinen Abgang zum Anlaß genommen, auch mich von der offiziellen Politik zu verabschieden, da ich aus zumindest mittlerer Nähe miterlebt habe, wie auch Gerhard Schröder an seinem Stuhl sägte.

ME/S: Ansonsten hätten wir jetzt einen Jazz-Fan als Kanzler und keinen, der freiwillig Scorpions hört.

Kunze: Der findet gar keine Musik gut. Schröder ist völlig unmusikalisch und würde alles gut finden, was ihm weiterhilft.

ME/S: Laßt uns etwas Einfacheres machen. Wir puzzeln: Wie setzt sich der ideale Deutsch-Rocker zusammen?

Kunze: Die Stimmfarbe von Peter Maffay, die Performance von Marius, die Musik von Herbert und die Texte von mir.

ME/S: Und die Brüste von Jule Neigel.

von Stuckrad-Barre: Nee, nee, nee, von der mal gar nichts, das könnte viel helfen.

ME/S: Statt dessen – was?

von Stuckrad-Barre: Etwas, das aus dem Kopf von Rio Reiser übrig geblieben ist, das Aussehen von Kim (Sänger von Echt – Anm. d. Red.), alles von Grönemeyer, was er einem gibt, von Westernhagen einfach mal gar nichts, von Blumfeld auch alles, was sie einem geben, und dann alles zusammenwursteln und merken: Es funktioniert nicht. Wenn es doch funktioniert, könnte man noch etwas von der Münchner Freiheit dazunehmen, die ich sehr schätze.

ME/S: Und wie hast du die Berliner Freiheit empfunden?

von Stuckrad-Barre: Ich habe mir auch traurige Gedanken darüber gemacht. Aber nur, weil ich damals im Zonenrandgebiet wohnte und die plötzlich in unserer Wohnung standen.

Kunze: Ich denke, Benjamin kennt die Situation nicht, in den Siebzigern ein gläubiger Linker gewesen zu sein. Das war ich ja mal. Ich war ja ein Mensch, der sich durchaus traurige Gedanken darüber machte, daß die DDR nun zusammenbricht.

ME/S: Das muß Benjamin auch nicht wissen.

von Stuckrad-Barre: Das ist Quatsch. Das Alter entbindet einen überhaupt nicht davon, Dinge wissen zu müssen. Das muß man dann eben nachlernen. Die Jugend hat das Recht, schnöselig über Dinge hinwegzusehen, muß es sich aber aufbürden, diese Dinge später nachzuholen. Sonst kann sie pinkeln gehen.

ME/S: Aktuelleres Thema: CD-Schwarzbrennerei, Schulhof-Piraterie.

von Stuckrad-Barre: Das ist nun echt ein langweiliges Thema. Ich möchte darüber nicht reden.

Kunze: Ich bin in der Beziehung etwas anders geartet. Ich kenne meine Kundschaft – die machen das.

von Stuckrad-Barre: Ich bringe dann immer gerne das Good-Old-Argument, daß ich die ganze CD will, samt Cover. Das haptische Erlebnis. Ein super Argument.

Kunze: Das ist das Stichwort. Mir als Konsument geht es genau so. Ich möchte etwas erwerben, will es haben, das Booklet lesen. Ich will, wie bei Büchern, auch daran schnüffeln.

von Stuckrad-Barre: Schnüffeln ist bei CDs ein etwas einsamer Vorgang. In der Regel riecht es nicht. Obwohl ich das Gefühl habe, Pur-Platten riechen doch irgendwie streng.

Kunze: Und meine riechen, wie du weißt, angeblich parfümiert.

von Stuckrad-Barre: Auch nach Erdäpfeln, ein bißchen nach Mutterscholle.

Kunze: Nein, eigentlich riechen sie nach etwas Gutem.

von Stuckrad-Barre: Meine Bücher riechen ja leicht nach Chanel – das ist ein Riesen-Werbedeal.

ME/S: Weiter, bitte.

Artikelfoto (Foto von Peter Gadge)von Stuckrad-Barre: Gut, dann laß uns über Punkrock und die Vergänglichkeit von Musik sprechen.

Kunze: Als ich vorhin losgefahren bin, habe ich im Auto die "Nevermind the Bollrocks" aufgelegt. Es erstaunt mich immer wieder, wie normal und geläufig man das heutzutage hören kann, was damals so eine Revolution ausgelöst hat.

von Stuckrad-Barre: Diese Platte lege ich auch oft auf, um bestimmte Zustände herbeizuführen. Aber wenn man zum Beispiel die Bates nimmt – eine völlig unbedeutende Band eigentlich. Aber als ich Abitur machte, waren die uns kurz wichtig, einfach, weil die Älteren sie nicht kannten. Die Bates waren unsere Entdeckung, wie viel bessere alte Punkrock-Platten es gab. Pop braucht auch immer diesen Ausschluß-Code: Ihr versteht das nicht, das ist unsers.

Kunze: Und jetzt die tödliche Frage: Wie kannst du damit leben, daß Johnny Rotten Bands wie Van der Graaf Generator – eine Band aus der Ära von Genesis, Jethro Tull und Gentle Giant – sehr geliebt hat?

"Ich will gewährleistet wissen, daß die Rock-Vergangenheit ihren Stellenwert behält
Heinz Rudolf Kunze
von Stuckrad-Barre: Mit Hilfe schwerer Medikamente versuche ich, damit klar zu kommen.

ME/S: Tödliche Frage zurück an Heinz: Wie kannst du damit leben, daß deine zwölfjährige Tochter jeden Tag Blümchen auf VIVA hört?

Kunze: Um ehrlich zu sein: Bei uns zu Hause kennt man VIVA nicht so gut.

von Stuckrad-Barre: Ich gucke VIVA auch nicht. Dieses grenzdebile Gerede, aufgrund dessen man sich über die blödesten Videos freut, nur weil dann das Geschwätz aufhört. Dieter Gorny ist ein Depp, ein Heuchler.

ME/S: Gibt es für dich nur schwarz und weiß, nur ekelhaft und schleck?

von Stuckrad-Barre: Im Gegenteil: Es ist schön, daß die Leute heute gnadenloser sein können, weil sie sich nicht mehr zwischen zwei Dingen entscheiden müssen. In den Achtzigern war man entweder für Dark Wave oder für Pop. Beides zusammen ging nicht. Heute kann man etwas Krankes aber Tolles wie Eros Ramazzotti hören, trotzdem auch interessantristische Platten. Die Leute kaufen mit einer Platte nicht mehr ein Lebenskonzept, sondern nur noch diese Platte.

Kunze: Wie erklärst du dir dann, daß ich noch da bin?

von Stuckrad-Barre: Man kann ja nicht weg sein. Man kann diese Menschen nicht entsorgen. Es gibt einen als Mensch noch weiterhin. Und wenn man es ernst meint, macht man seine Kunst weiter. Wenn man das nicht machen würde, wäre alles, was man vorher gemacht hat, entwertet. Ich müßte keine Bücher mehr schreiben, denn es gibt mehr Bücher, als ich in meinem Leben lesen könnte, die hundertmal besser sind als alles, was ich je schreiben werde. Trotzdem stelle ich mich hin und sage: "Genau – Deutschland muß das jetzt lesen." Diese Haltung, die durch nichts begründet ist als durch Größenwahn, liegt jedem Kunstwerk zu Grunde.

Artikelfoto (Foto von Peter Badge)ME/S: Blümchen, Oli P., Christina Aguilera, E-Rotic, Ann Lee – würdest du die ernsthaft als Künstler bezeichnen?

von Stuckrad-Barre: So etwas hat es doch schon immer gegeben.

Kunze: Da muß ich energisch widersprechen. Schau dir die Charts im England der Siebziger an: Free, Led Zeppelin, Jimi Hendrix.

von Stuckrad-Barre: Und diese ganzen Schlagerinterpreten in Deutschland?

ME/S: Nun aber mal im Ernst: Die Leute, von denen jetzt die Rede ist, sehen sich doch bei Lichte betrachtet nicht einmal selbst als Künstler.

von Stuckrad-Barre: Klar. Bei VIVA zum Beispiel gibt es quasi fest angestellte Acts wie Dune. Da sagt man halt: Das ist das Elend, das ist gräßlich. Aber das ist doch wurscht. Es wird immer Bands geben wie die ...

Kunze: Noch mal: Schau dir die "Melody Maker" – Charts von vor 25 Jahren an ...

von Stuckrad-Barre: ... Chemical Brothers. Oder Kruder und Dorfmeister. Die andern sind egal. Die Charts sind mir egal.

Kunze: Du mußt mal einen Abend zu mir nach Hause kommen und dich einer Musikgeschichte aussetzen, die du gar nicht erleben konntest. Ich würde dir gerne mal "Passion Play" und "Thik As A Brick" vorspielen – an einem Stück.

von Stuckrad-Barre: Nie gehört. Und was macht man dabei, während man das hört?

Kunze: Das sind die beiden großen Konzeptalben von Jethro Tull.

von Stuckrad-Barre: Ist das der Mann auf dem einen Bein mit der Querflöte, den ich ganz platt einfach nur als ästhetisches Ärgernis wahrgenommen habe?

Kunze: Das war für uns wichtige Musik! Ich bin nicht der Advokat der Vergangenheit. Ich will nur gewährleistet wissen, daß die Rock-Vergangenheit ihren Stellenwert behält. Mein Gitarrist hat einen zwölfjährigen Sohn, der Schlagzeug spielt und jetzt eine Schülerband gegründet hat. Und was hören die, um sich zu schulen? Hendrix und Led Zeppelin.

ME/S: Lesen die Rainald Götz?

Kunze: Um den Bogen zu schließen: Es gibt in dem Götz-Buch eine unglaublich dämliche Bemerkung über Oasis. Er schreibt, er könne das Genöle von John Lennon nicht mehr hören. Er will aber ein ähnliches Genöle hören – wenn es von Liam Gallagher ist.

von Stuckrad-Barre: Prima These. Ähnlich meinte ich es vorhin mit dem Punkrock.

Kunze: Dann ist das wohl ein Generationenkonflikt – obwohl Rainald Götz zwei Jahre älter ist als ich.

von Stuckrad-Barre: Rainald Götz ist alters- und geschlechtslos. Damit hat er viel erreicht. Das ist auch mein Ziel: alters- und geschlechtslos zu werden.

 

Peter von Stahl, Musik Express/Sounds, Januar 2000

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