Heinz Rudolf Kunze und Tino Eisbrenner (Artikelfoto)

1999

Wir wollen eher nach Mombasa als nach Bonn

Rockmusik widerspiegelt Lebensgefühl. In den Liedern der ostdeutschen Musiker könnten Westdeutsche mehr über ihre Landsleute erfahren. Doch das Interesse, sich darauf einzulassen, ist gering. Auch viele Ostdeutsche jubeln lieber den ihnen vertrauten Bands zu. Selbst die meisten Musiker schmoren lieber im eigenen Saft – man weiß wenig voneinander. Zu den Ausnahmen gehören der Hannoveraner Heinz Rudolf Kunze und der Ostberliner Tino Eisbrenner. Seit Jahren verbindet sie mehr als eine Freundschaft. Eisbrenners soeben erschienenes Album "Stark sein" (Monopol) produzierte der Kunze-Gitarrist Heiner Lürig.

LVZ: Daß Ost- und Westmusiker intensiven Kontakt miteinander suchen, ist zehn Jahre nach der Wende noch immer selten. Ihr kommt aus verschiedenen Rockgenerationen. Wie habt ihr euch kennengelernt?

Tino Eisbrenner: Dank widriger Umstände. Meine ehemalige Plattenfirma K & P Music war 1993 der Meinung, daß meine Texte nicht fürs neue Deutschland taugen. Sie wollten mir einen "gesamtdeutschen Textguru" zuordnen und beauftragten Heinz Rudolf Kunze mit Heiner Lürig, Texte zu schreiben und die CD zu produzieren. Doch Heinz fand meine Texte o.k. und meinte: Laßt dem Tino seine Idendität. BAP geht ihr doch auch nicht an die Texte. Mitten in der Produktion zogen sich K & P zurück. Heinz und Heiner arbeiteten weiter und übernahmen das finanzielle Risiko für "Willkommen in der Welt". Später erschien es bei Buschfunk. Das war der Beginn unserer Freundschaft.

Heinz Rudolf Kunze: Bis dahin hatte ich zur Ostszene nur einen von politischen Menschen vermittelten Kontakt, kannte nur Oberbands wie City, Silly. Man kam sich bei Small Talk näher. Von den Kollegen, die ich auf Tourneen kennenlernte, fand ich Toni Krahl am symphatischsten. Ich erfuhr von ihm Dinge, die in offiziellen Treffen keine Erwähnung fanden.

LVZ: Ich erinnere mich an eine Begegnung kurz vor der Wende in Leipzig zwischen dir und Musikern der Sektion Rock, die zum Komitee für Unterhaltungskunst gehörte. Tiefgründig ins Gespräch gekommen seid ihr nicht.

Heinz Rudolf Kunze: Nein. Uns waren die Arbeitsbedingungen von Musikern im Osten sehr fremd. Staatliche Vereinnahmung kannten wir nicht. Bei allen schönen Erlebnissen, die ich hatte, vergesse ich eine schlimme Begegnung nicht: Eine SED-Funktionärin umarmte einen Liedermacher und sagte: "Äußere dich doch mal. Wir haben noch viel mit dir vor." Ich fand die Mechanismen marsartig- außerplanetarisch. Ich wünschte mir als westdeutscher Musiker und Kritiker manchmal, daß Dinge, die ich für besonders wertvoll halte, mehr Förderung erfahren. Nur – da machst du immer einen Pakt mit dem Teufel.

Tino Eisbrenner: Auch in anderen Gesellschaften gab es Förderer von Kultur. Da sind große Werke über die Jahrhunderte entstanden. Und in der DDR hat Manfred Krug mit dem verjazzten Schlager eine Musik gemacht, die auf der Welt einmalig war. Die konnte sich nur in der DDR entwickeln, weil der Mann nicht darauf angewiesen war, sich ökonomischen Zwängen unterzuordnen. Krug befand sich fern von gut und böse, er war künstlerisch frei. Das können heutzutage kaum Künstler von sich behaupten – selbst die nicht, die gut Geld verdienen. Da werden Fragen gestellt wie: Verkauft sich das? Ist das was für die Medien?

Heinz Rudolf Kunze: Wie kam Krug, dieser Populist, in die Position?

Tino Eisbrenner: Krug wurde in den 60ern als Künstler in eine Zeit hineingeboren, in der die DDR versuchte, fast alles neu zu erfinden. Er war einer der ersten, der die Songs von Ray Charles mit deutschen Texten sang. Krug sah, daß er damit zwei Seiten eine Freude machen konnte – dem Publikum, das Jazz aus dem Westen liebte, und denen da oben, die Songs in deutscher Sprache hören wollten.

Er war ein Volksheld – natürlich auch durch seine Filme. Ein verbotener Film wie "Spur der Steine" brachte ihm zusätzliche Sympathien beim Volk. Das war so eine Spezifik in der DDR: Du konntest Schriftsteller lieben, die du nie gelesen hattest, weil ihre Bücher verboten oder nur in der Bundesrepublik gedruckt wurden. Das Publikum wertete jeden Künstler, der im Westen auftrat, auf. Das ist aus heutiger Sicht sicherlich schizophren, denn Staat und Stasi stellten die Reisepapiere aus. Wie oft hörte ich: Auf Puhdys stehe ich eigentlich nicht – aber die spielen im Westen! Karat war besonders populär, nachdem Maffay "Über sieben Brücken" sang. Citys Song "Am Fenster" wäre bestimmt nicht der DDR-Hit geworden, hätte die Platte nicht Gold in Griechenland bekommen. Auch die Rolle meiner Band Jessica begriff ich erst Jahre später. Wir waren die netten, naiven Jungs von nebenan, als das Popmusikzeitalter in der DDR begann. Uns entdeckte ein englisches Fernsehteam – von da ab ging's bergauf. Die Sehnsucht nach der großen weiten Welt verlangte dem Publikum und auch zahlreichen Funktionären bestimmte Gefühle ab, die sie bei nüchterner Betrachtung ohne Mauer nicht gehabt hätten.

LVZ: Die erste Platte von Jessica fand 180 000 Käufer – Zahlen, von denen heute die meisten Künstler träumen

Heinz Rudolf Kunze: Eine respektable Zahl – in einem geschlossenen Markt. Es ist erschreckend, wenn man sich außerhalb politisch geschlossener Grenzen orientieren muß. Wir standen von Anfang an in Konkurrenz zu Phil Collins.

Tino Eisbrenner: Wobei – dieses Inselchen DDR hatte auch etwas Verbindendes. Dieses Gemeinschaftsgefühl aufgrund des gemeinsamen Schicksals ist eine der wenigen Sachen, auf die ich mit gewisser Wehmut zurückblicke. Auf jeder Party begegnest du heute einer bestimmten sozialen Schicht. Zu DDR-Zeiten war das nicht so. Da trafen sich Offizier und einfacher Soldat, Lehrer und Schüler, Musiker und Fans, Schlosser und Meister, Bauern, Ärzte miteinander – und keiner tat dem anderen was.

LVZ: War da nicht Illusion? Die Konflikte in der DDR-Musikszene – nicht nur zwischen denen, die nach Renft und Biermann das Land verließen und denen, die blieben – sind bis heute nicht ausgetragen.

Heinz Rudolf Kunze: Wie auch. Machen wir uns doch nichts vor: Bands, die Karriere machen wollten, mußten zwar nicht IM sein, jedoch mit der Stasi kooperieren.

Tino Eisbrenner: Oder sie wurden auseinandergeschraubt, z. B. indem das Wehrkreiskommando die Musiker einer Band nacheinander zur Armee schickte. Trotzdem gab es in der DDR eine Vision.

Heinz Rudolf Kunze: Ich fürchte, auch innerhalb der Kader. Von 1987 bis 89 lernte ich einige hochrangige Funktionäre kennen, denen ich nach wie vor abnehme, daß sie die DDR von innen reformieren wollten.

Tino Eisbrenner: Unser Lied Bring mir die Sonne" war im Rundfunk verboten – im Fernsehen aber ein Hit. Solche Dinge machten mir Mut. Ich wußte, da sitzt einer, der denkt wie ich. Im Rundfunklektorat war wohl einer, der uns nicht mochte. Beim Fernsehen arbeitete Alexander Lehmberg, unser Mentor. Hört man heute Beschreibungen über den DDR-Alltag, muß man denken, daß alles von oben gesteuert wurde. Das ist falsch. Es gab vieles dazwischen. Und oft entschied persönliche Sympathie oder Antipathie.

LVZ: Heinz Rudolf, was unterscheidet das Ost-vom Westpublikum?

Heinz Rudolf Kunze: Das Ostpublikum kann sich amüsieren und trotzdem gut zuhören – ein toller Brückenschlag. Ich will mein Westpublikum nicht niedermachen. Aber da überwiegt manchmal das Feiergefühl vor dem Bedürfnis, etwas mitzukriegen von dem, was der da oben auf der Bühne mitzuteilen hat. Die besondere Aufmerksamkeit, die ich im Osten spüre, erkläre ich mir durch die Fähigkeit, Chiffren wahrzunehmen und zu entschlüsseln. Wenn ich bei einer Zeile mit dem Mundwinkel zucke, wissen selbst die Leute in der letzten Reihe, was ich meine. Bei der ersten Tour schrieb ich einen Text, in dem ich mich unwillkürlich der Chiffresprache annäherte. Als wir 1988/89 sahen, wie die Leute auf Worte reagierten wie Ich will auf die offene See" berührte mich das tief. Der Text war instinktiv nach vielen Gesprächen mit DDR-Bürgern, Tourbegleitern, FDJ-Funktionären entstanden.

LVZ: Welche Erfahrungen hat Tino bei Auftritten in West gemacht?

Tino Eisbrenner: Wir hatten nicht vieIe. Die Reaktionen waren immer die gleichen. Am Anfang: Schauen wir mal, was das werden soll. Zum Schluß schwebte das Publikum in totaler Euphorie. Die dachten wohl, die aus dem Osten rennen noch mit der Trommel um den Christbaum.

LVZ: Das Interesse gegenüber der in der DDR entstandenen Musik und ihren Bands ist im Westen gering. Nur junge Bands, die nach der Wende entstanden, werden wahrgenommen. Welche Chancen sieht Heinz Rudolf Kunze für Künstler wie Eisbrenner, sich im Westen ein Publikum zu erobern?

Heinz Rudolf Kunze: Ich möchte ihnen raten, sich bewußt zu einer Identität der neuen Bundesländer zu bekennen und als Teil von Deutschland zu verstehen. Ich denke, daß die Regionen ihre Wichtigkeit behalten und keiner leugnen muß, woher er kommt. Es kann nicht gut sein, wenn jeder tut, als käme er von irgendwo. Tinos Weg find' ich respektabel. Er spielt die Identität aus Ostberlin nicht so hoch und versucht, etwas zu formulieren, was bundesweit gelten kann.

Tino Eisbrenner: Je mehr ich in das Gesamt-Deutschland hineinwachse und die Dinge, die da passieren, verstehe, ohne meine Tradition zu verdrängen, desto mehr werde ich in der Lage sein und Lust haben, mich gesamtdeutsch zu verständigen. Ich will eine Ostgeschichte erzählen, die in den Westen hineinwächst. Das ist unser Privileg – nicht in diesen Kapitalismus hineingeboren zu sein und unser Lebensgefühl mit Distanz betrachten zu können.

LVZ: Warum ist die Neugier sich kennenzulernen, so gering? Einheit bedingt doch, daß zwei Seiten aufeinander zugehen ...

Heinz Rudolf Kunze: Ich interessiere mich prinzipiell nicht für Musiker, die irgendwo herkommen, sondern für die, die ich gut finde. Ansonsten habe ich mich immer an England und Amerika orientiert, weil Rockmusik nach wie vor nicht in Deutschland erfunden wird.

Tino Eisbrenner: Dieses "Jetzt können wir gemeinsam spielen" ist ein Ostbedürfnis. Wir gehen genauso wenig auf die andere Seite zu wie sie auf uns. Und sind nicht weniger an Engländern und Amerikanern interessiert. Wir wollen eher nach Mombasa als nach Bonn.

Heinz Rudolf Kunze: Und doch müßt ihr erst nach Bonn. Dann können wir diesen Gegensatz unverkrampft überwinden und gemeinsam nach Mombasa fahren.

Tino Eisbrenner: Nein, ich denke, es ist andersherum richtig. Wir hatten vor, Heinz als Special Guest zu holen. Das hätte fast geklappt. Gemeinsame Konzerte sind aber erst möglich, wenn wir gleichberechtigt auf dem Podest stehen. Deswegen denke ich, der Ostdeutsche soll erst nach Mombasa – dann kann ihm der Westdeutsche die Tasche nicht mehr vollügen. Mich interessiert nicht mehr, ob ich mit Westdeutschen klarkomme – sondern ob es mit Europa und der Welt funktioniert.

LVZ: Die Majors, die hierzulande das Musikgeschäft bestimmen, haben bis auf Bertelsmann ihren Hauptsitz in den USA. Haben sie Interesse an der Entwicklung deutschsprachiger Bands?

Heinz Rudolf Kunze: Das sind Vertriebsunternehmen, die verkaufen alles. Ich will Chancen – nichts weiter. Ich kann nur anregen, daß eigensinnige Menschen, die tolle Ideen haben, im Probenraum nicht sagen müssen: Ich singe englisch, weil ich sonst im Radio nicht vorkomme. Ich will einen Brückenschlag – nicht, daß wir uns aufgeben und sagen: Wir sind eine Kolonie und haben nichts mehr beizutragen zur Weltkultur. Walser war Vorläufer auf literarischer Seite. Er erhielt Ohrfeigen, weil er sagte: Wenn wir die Frage unserer Identität nicht beantworten, überlassen wir die Frage den Neonazis – und die beantworten sie mit simplem Nationalismus. Die kulturelle Identität ist ein düsteres Kapitel der Linken, das sie gern verdrängen. Krieg und Aggressionen lassen sich nur vermeiden, wenn man die Fremdheit akzeptiert – als Fremdheit.

Christine Wagner, Leipziger Volkszeitung, 1. Juli 1999

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