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1987

Interview mit Heinz Rudolf Kunze

Das Interview wurde am 13. Februar 1987 im Rahmen der Wunderkinder -Tour vor dem Konzert in Wilhelmshaven geführt. Es ist auszugsweise und in drei Teilen in der Oldenburger Schülerzeitung "KB-CK" / "Omega" erschienen und kam zustande, nachdem ein Interviewtermin im Anschluß an das Oldenburger Konzert vier Tage zuvor kurzfristig abgesagt wurde. Von daher bezieht sich die erste Frage auch auf Oldenburg.

Frage: Du hast mit der Band in den letzten Monaten drei Mal in Oldenburg gespielt. Das war im Mai 1986 auf dem "Haste Töne!"-Festival der Grünen, im Dezember bei der NDR-Riesenfete und jetzt im Rahmen der Wunderkinder-Tour.

Kunze: Ja, und alle drei Mal war es toll. Oldenburg ist irgendwie gut.

Frage: Läßt sich durch diese drei doch recht gegensätzlichen Veranstaltungen Dein Publikum beschreiben?

Kunze: Nein, es läßt sich speziell mit der NDR-Fete zum Beispiel nicht beschreiben. Das war ein ganz gemischtes Publikum, denn die waren ja nicht nur wegen uns da – sicherlich auch wegen uns, aber die wollten ein Gesamtprogramm sehen, wie auch bei der grünen Revue. Wirklich repräsentativ scheint mir nur der Auftritt vor ein paar Tagen gewesen zu sein – da waren eben die Leute da, die wußten, da spielen nur wir und das wollen wir hören.

Frage: Wie würdest Du denn überhaupt Dein Publikum beschreiben. Was für Leute besuchen die Konzerte?

Kunze: (überlegt) Ich habe auf dieser Tour, auf der letzten hat sich das schon angedeutet, ein sehr gemischtes Publikum. Ich habe allerdings auch eine jedes Jahr wachsende Fraktion von richtig jungen Leuten, richtigen Kids. Die ersten zwanzig Reihen vorne werden immer jünger.

Weiter hinten gruppieren sich dann die gesetzteren Jahrgänge – aber ich finde das ganz schön. Warum soll man nicht verschiedene Alters- und Interessensgruppen bei sich versammeln können. Das war früher sicherlich nicht so und ist ja an sich eine Eigenschaft, die man nur dem Superstar Maffay nachsagt, daß er eben verschiedenste Menschen bei sich sammeln kann.

Frage: Was gibt es denn auf den beiden letzten LPs für Unterschiede zu den vorherigen?

Kunze: (überlegt wieder) Sagen wir mal so: Es hat Jahre gedauert, bis ich die Leute um mich herum zusammen hatte, die überhaupt spielerisch im Stande waren, mit mir zusammen als Sänger, den sie ertragen müssen, eine halbwegs losgehende, geradlinige Rockmusik zu spielen. Weil wir das früher nie konnten, waren da unsere musikalischen Versuche zum Teil extremer. Damit haben wir aber oft nur kaschiert, daß die Band keinen Rock & Roll spielen konnte.

Jetzt ist es handwerklich einfach besser. Ich will jedem das Recht lassen, die alten Platten lieber zu mögen als die neuen, das kann ich keinem Menschen vorschreiben – mir geht es aber nicht so. Doch keiner glaube ich kann abstreiten, daß von der spielerischen und gesanglichen Arbeit, von der Produktionstechnik, vom Klang, die beiden letzten LPs den anderen einfach meilenweit voraus sind. Man kann es bedauern oder begrüßen, daß die Musik eindeutiger geworden ist – ich begrüße es – aber es gibt keinen Zweifel daran, daß der Gitarrist Heiner Lürig, den ich jetzt habe, aus mir als Musiker einfach mehr an Leistung rausgekitzelt hat als sein Vorgänger. Mick Franke war jemand, der immer sehr ehrfurchtsvoll meine Texte entgegen genommen hat, wogegen Heiner vielmehr darauf achtet, welche von den Texten oder Melodiefragmenten, die ich anschleppe, sich für die Band eignen, bei den anderen im Kopf etwas auslösen und sich in Musik umsetzen lassen.

Frage: Die Konzerte werden jetzt aber, durch die größeren Hallen bedingt, immer anonymer. Hast Du darunter nicht zu leiden?

Kunze: Das ist eindeutig eine Bedingung, die man gar nicht befragen, oder aus den Angeln heben kann. Das muß einfach so sein, denn wir haben die letzten zwei LPs mit dem Gedanken aufgenommen, das auch in adäquater Form auf die Bühne zu bringen, was eine große Produktion bedingt und bedeutet, daß das was wir mit der neuen LP Wunderkinder gewollt haben, in Clubs gar nicht mehr angemessen spielbar ist. Man braucht eine große Räumlichkeit um sich klar zu entfalten und Druck zu erzeugen, um auch eine große Lichtanlage aufzubauen, was diese Produktion einfach von den Stücken her – wie ich finde – erzwingt, so daß man sich frühzeitig damit abfinden muß, daß größere Räume natürlich auch Nähe zu den Leuten einbüßen. Dazugewinnen kann man in solchen Sälen aber, wenn man gut drauf ist, und wenn man Glück hat, ein Überschäumen von Stimmung, das in den kleinen kaum machbar ist.

Frage: Dadurch macht es in den großen Hallen dann auch mehr Spaß zu spielen?

ArtikelfotoKunze: Ich will das gar nicht gegeneinander ausspielen. Es hat beides seine Reize. Das Programm, mit dem wir jetzt losziehen erfordert aber so ein Denken und so ein Planen.

Frage: 1986 brachte für Dich den sogenannten Durchbruch. War das eigentlich erwartet, mit der Platte Dein ist mein ganzes Herz Erfolg zu haben?

Kunze: (leicht erregt) Die Frage höre ich immer wieder – Ich frage mich immer wieder, wie kann man auf diese Frage kommen. Wie kann man denn so etwas erwarten? Wir waren natürlich sehr froh.

Frage: Herbert Grönemeyer hat zum Beispiel 1984 gesagt, nachdem er mit seiner "Bochum"-Platte erfolgreich wurde: 'Keiner hat an diesen Erfolg geglaubt. Ich hatte höchstens gehofft, daß sich Bochum etwas besser verkaufen würde als die Platte davor.'

Kunze: (räuspert sich) Ich halte das für kokett. Er muß gewußt haben, daß die Platte griffiger war, als seine Platten davor. Also wir sind aus dem Studio gegangen als wir fertig waren und haben gesagt: 'Gut. Diese Platte wird auf jeden Fall mehr verkaufen als ihr Vorgänger.' Aber viel mehr, das wußten wir nicht.

Da macht man sich was vor, wenn man das abstreitet. Als die Platte fertig war, wußten wir, da sind Sachen drauf, die sind spielbar und die werden wahrscheinlich auch musikalisch mehr Leute und breitere Schichten ansprechen. Das war schon absehbar. Nur welches Ausmaß das annimmt weiß man natürlich nicht."

Frage: Neben Musik und Text gibt es ja noch andere Grundlagen für Erfolg. Hast Du imagemäßig irgend etwas gemacht?

Kunze: Nein. Kann ich mich nicht entsinnen, darüber jemals bewußt nachgedacht zu haben. Ich meine man denkt ein bißchen nach mittlerweile über die Art, wie man sich auf Coverfotografien einläßt, was man da zeigt, welche Rolle man da spielt, wie man sich verkleidet, auch was man auf der Bühne anzieht. Aber ansonsten bin ich glaube ich gar nicht mit so einem festen Image ausgerüstet. Ich habe bloß immer so einen Abwehrkampf zu führen, weil mir immer, nicht nur von Journalisten, sondern auch von Kollegen, mit größter Gemeinheit und Hartnäckigkeit der Oberlehrer nachgeworfen wird, der ich überhaupt nicht bin. Jedenfalls nicht in meiner Arbeit.

Ich kann mich auch mit jedem Song guten Gewissens einer Interpretation stellen. Ich überrede nicht Leute zu irgendwas, ich kaue ihnen keine Haltungen vor, ich mache ihnen mit Liedern überhaupt keine Handlungsanweisungen zurecht, wie sie leben oder denken sollen oder sonst etwas. Ich biete vielmehr Dinge an, lasse sie fast immer offen und mute schon Leuten zu selbst den Schlußstrich zu ziehen, unter so ein Lied. Ich denke, es gibt viele Kollegen im deutschen Bereich, die nicht so dicke Hornbrillen tragen wie ich, die trotzdem sehr viel oberlehrerhafter schreiben als ich.

Frage: Ist die Brille eigentlich mittlerweile so etwas wie eine Masche geworden?

Kunze: Ja, irgendwann versucht man natürlich daraus das beste zu machen und macht sozusagen die Flucht nach vorn. Fürs nächste Jahr habe ich mir auch vorgenommen, etwas mehr Elton John-mäßig zu kommen. Mein Ding im Ohr wird dann größer und ein Pferdeschwanz kommt auch.

Frage: Dadurch wirkst du dann weniger brav – um noch mal auf das Image zurückzukommen? Zum Beispiel wird oft vom 'Saubermann der deutschen Popszene' oder vom 'Biedermann mit den flotten Songs' gesprochen.

Kunze: Also offensichtlich haben diese Beschreibungsversuche doch mehr so einen Geduldsspiel- oder Selbstbefriedigungscharakter, in Medien auch. Denn die Leute sind jedes Jahr bisher in größerer Zahl gekommen und sehen das offensichtlich anders. Saubermann meint vielleicht insofern das richtige, daß ich sehr viel eindringliche Post bekomme. Für manche habe ich schon fast so eine Art Seelsorgerfunktion. Da wird mir manchmal ungeheures aufgebürdet an Briefen und zum Teil auch Selbstgeschriebenem, das ich dann lesen und beurteilen soll. Das ist viel Verantwortung und oft mehr als mir lieb ist.

Frage: Als Lehrer würde aber wahrscheinlich kein Pferdeschwanz kommen, wenn Du an Dienen früheren Beruf und den angestrebten Posten des Studienrates zurückdenkst?

Kunze: (erstaunt) Als Lehrer? ... Als Lehrer würde wahrscheinlich heute auch einer kommen müssen, weil man da ja immer mehr mit Shows konkurrieren muß. Den Unterricht muß man immer mehr zur Show umfunktionieren, um noch mithalten zu können mit den ganzen Ablenkungsangeboten.

Frage: Viele Deiner Songs können dadurch, daß sie aus verschiedenen Rollen heraus und zum Teil ironisch geschrieben sind, Mißverständnisse provozieren. Beispielsweise hat sich der 'Bund der Vertriebenen' für ein 'klares Bekenntnis' im Song "Vertriebener" bei Dir bedankt. Wäre es nicht einfacher für Dich, deutlich Stellung zu beziehen und die Sachen nicht so offen zu lassen?

Kunze: Ja, ich kann mich natürlich hinstellen, ein Pogo-Stück machen und ständig 'Kohl ist scheiße' singen, nur ... da habe ich keine Lust zu. Ich denke, daß das doppelbödige Sprechen, das ironische Sprechen, möglich sein muß und möglich bleiben muß. Natürlich kommt man irgendwann auf die bange Frage: 'Wie dämlich und wie banal muß man sich eigentlich auf deutsch ausdrücken, damit einen erwachsene Menschen verstehen', aber das laß ich mir nicht nehmen. Ich möchte mich nicht reduzieren auf so ein plattes Hinweisen: 'Das find ich toll und das find ich ungeil'. Ich sag es eben etwas anders.

Frage: Du hast also gelernt, damit zu leben, daß viele Leute Deine Texte entweder nicht verstehen oder aber einfach weghören und es stört Dich nicht, wenn jemand Deine Platten gut findet, ohne die Texte zu kennen?

Kunze: Um Gottes Willen! Ich will doch keinem vorschreiben, wie er mich denn zu genießen hat. Der Sänger darf sich sein Publikum ja nicht backen. Die Leute haben schon das Recht, damit umzugehen, wie sie wollen. Ich freue mich natürlich über Leute, die es ähnlich verstehen, wie ich es gemeint habe.

Frage: Als Singles werden Deine kritischen Songs aber doch nicht veröffentlicht.

Kunze: Ja, ja, sicher. Aber Leute, die sich Singles kaufen sind andere als Leute, die sich LPs kaufen. Von Singles erwartet der Deutsche entweder Beschreibungen von Blödeleien, Liebe oder Urlaub. Am besten alle drei Sachen zusammen.

Frage: Das wird dann Nr. 1?

Kunze: Ja, oder zumindest Nr. 5 wie "Keine Sterne in Athen". Ist ja auch ein gutes Lied.

Frage: Deine Singles stellst Du auch häufig im Fernsehen vor. Meistens im Playback. Stört Dich das als Musiker eigentlich auch? Ich als Zuschauer habe immer das Gefühl, ich werde verarscht.

Kunze: Im Gegenteil, es stört mich nicht. Es ist sogar das einzig befriedigende im Umgang mit dem Medium Fernsehen, denn das Fernsehen hat es bis heute nicht geschafft, einen auch nur erträglichen Live-Ton hinzukriegen. Das was man als Live-Ton angeboten bekommt, bei diesen Veranstaltungen, ist entweder gelogen, also überarbeitet, wie bei "Rock-Pop in Concert" im ZDF, oder es ist, wie fast immer im Rockpalast, wo es wirklich live war, schlecht vom Sound.

Die Umsetzung von Liedern in Bilder funktioniert am reibungslosesten und am sinnvollsten, diesem Medium gemäß, wenn man sich auf ein einigermaßen gut vorproduziertes Playback verlassen kann.

Frage: Gibt es denn Medien oder Fernsehsendungen denen Du Dich verweigerst? – Wo Du sagst: 'Da gehe ich nicht hin, das paßt nicht zu mir', auch wenn Du eingeladen wurdest?

Kunze: Ist bisher noch nicht vorgekommen, aber ich sehe auch keine geschmäcklerischen Vorlieben, denn das gesamte deutsche Fernsehen ist eigentlich schwachsinnig und die Frage ist nur, ob man Fernsehen überhaupt macht oder nicht.

Frage: BAP und Grönemeyer beispielsweise haben sich den Medien verweigert und waren unter anderem nicht in der ZDF-Hitparade.

Kunze: (entschlossen) Schwachsinn! Ein einziger schlagzeilenträchtiger Schwachsinn, der dazu auch noch zynisch und gelogen ist, denn was bringt es außer einen netten Schlagzeile für Herrn Grönemeyer, die Hitparade zu boykottieren und gleichzeitig in andere ZDF-Sendungen zu gehen, die von genau den gleichen Redaktionen gemacht werden.

Das ist alles dummes Zeug und da wird ein Buhmann aufgebaut, damit man dann schön ungeschützt und unbeobachtet in die anderen Sendungen gehen kann. (lacht)

Frage: Es stört Dich dann auch nicht, wenn ein Sampler rauskommt, vom Tag des deutschen Schlagers: "Dieter Thomas Heck präsentiert Heinz Rudolf Kunze".

Kunze: Nein, das stört mich überhaupt nicht, weil dadurch auch in Wohnstuben, die sonst überhaupt nie mit meinem Namen in Berührung kämen, mein Name reinkommt. Und vielleicht bleibt ja doch bei dem einen oder anderen mal der Wunsch hängen, etwas mehr zu wissen darüber, und sich vielleicht mal einen LP zuzulegen. Und dann tritt doch hoffe ich ein gewisser Verblüffungseffekt auf.

Frage: Bist Du ein Schlagersänger?

Kunze: (grinst) Manchmal hoffentlich. Nicht durchgängig, nein.

Frage: Zwei sehr ungewöhnliche Songs auf der Wunderkinder-LP sind Finden Sie Mabel und Kadaverstern. Bist Du nun ein besonderer Krimifan oder wie ist zunächst Finden Sie Mabel entstanden?

Kunze: (grinst) Kaum. Ich habe eigentlich erst vor ganz kurzer Zeit angefangen Krimis zu lesen. Damit kann es eigentlich nicht zusammenhängen.

Der Ausgangspunkt von "Mabel" war einfach der, daß ich in Deutschland eine unterentwickelte Liebesliedkultur sehe. Liebeslieder beschränken sich – auch bei den sogenannten anspruchsvollen – meistens darauf irgendwelche Schwüre auszustoßen, daß man jetzt eben nicht mehr weiter kann, und daß die Angebetete das größte Glück ist. Das ist ja auch alles sehr richtig und gut und schön, nur ... ich dachte mir, das kann man auch anders ausdrücken. Man könnte vielleicht auch ein Liebeslied hinkriegen, das man in eine Geschichte einkleidet und das eine kleine theatralische Situation von viereinhalb Minuten ablaufen läßt. Ich wollte die Themen Beziehung und Sehnsucht einfach etwas raffinierter verpacken, so wie es in England schon häufiger gemacht wurde. Da gibt es auch viele Schreiber, die dieses gut können, während das – finde ich – doch ganz wichtige Thema Liebeslied in Deutschland oft recht lieblos abgehandelt wird.

Frage: Und der Kadaverstern ist auf Tierversuche bezogen?

Kunze: Ja.

Frage: Was gab den Anstoß zu diesem Song?

Kunze: Nun, da gab es zwei Dinge, die mich bewogen haben. – Ich habe sozusagen ein Gedächtnismerkheft, in dem zum Beispiel Sätze, die mich beschäftigen, abgelagert werden. – Es gibt in der englischen Rockmusik nicht nur den Kampf gegen Mrs. Thatcher sondern auch noch viele andere Initiativen, die sich zusammengeschlossen haben, und eine davon ist eine Antitierversuchsbewegung. Die haben auf eigene Kosten einen Kurzfilm hergestellt, aus dem ich das gedankliche Motto für eine Zeile entlehnt habe, in der es heißt: 'Für Tiere ist jeden Tag Ausschwitz'. Dieser Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf und so fing ich dann an, darüber nachzudenken.

Der andere Anstoß war ein Leseerlebnis. Irgendwo heißt es bei Adorno – einem Philosophen, der ja nun, seit dem Verschwinden der Studentenbewegung, stark aus der Mode gekommen ist und den ich gerade deshalb lese – Er ist ein sehr finsterer Philosoph eigentlich, wenn er sich mit Schuldfragen oder auch Religion beschäftigt – 'Egal, was wir noch anstellen, um die Welt vielleicht doch noch zu retten, wir können ja das Leid, das nun schon mal auf der Welt passiert ist, nicht ungeschehen machen.' Das wird uns immer anhängen, egal wie gut wir die Zukunft gestalten. Auch wenn es einmal eine Generation geben wird, mit allen Menschen auf der Welt, die nicht mehr hungern und sich nicht mehr gegenseitig totschlagen müssen und so weiter. Tatsache ist, es ist grauenhaftes Unrecht geschehen, das nie wieder zu korrigieren ist, und nicht nur gegen Menschen, sondern auch gegen Tiere und die Natur.

Der Mann ist sehr extrem, das gebe ich zu, aber der Satz hat mich doch sehr fertig gemacht. Adorno sagt: 'Das Unrecht, das einem einzigen Haustier beispielsweise, zu irgendeinem Zeitpunkt angetan worden ist, bedeutet schon, daß sozusagen die Rückkehr ins Paradies im unschuldigen Zustand nicht mehr möglich ist.' Das hat auf mich schon starken Eindruck gemacht und das habe ich dann im Kadaverstern verarbeitet.

Frage: In der DDR ist jetzt eine Heinz Rudolf Kunze EP mit vier Liedern erschienen. Was bedeutet Dir das ganz persönlich?

ArtikelfotoKunze: Eine große Genugtuung, denn für uns Deutschsprachige gibt es ja nicht so viele Wirkungsräume, in denen wir überhaupt das verbreiten könnten, was wir möchten. Insofern ist es ja immer sehr schizophren und gespalten und traurig, wenn man sich im anderen Deutschland nicht Gehör verschaffen darf. Ich weiß eindeutig – nicht nur durch die vielen Verwandten von mir, die da wohnen – daß ich da auch sehr bekannt bin und das die Leute doch recht aufmerksam im Radio und Fernsehen verfolgen, was da läuft.

Wir werden da im August auch touren und es ist schön, von der FDJ zu hören, daß man auf einem Open-Air vor 10.000 Leuten spielen darf.

Die Tatsache, daß die das inhaltlich nicht stört, verwundert mich eigentlich nicht, denn vieles was mir hier nicht gefällt, sehen die ja ähnlich. Ich werde mich, wenn ich dann als Gast rübergehe, auch eher leise und diplomatisch, so wie es der Maffay vorgemacht hat, verhalten und nicht durch voreiliges Gerede, wie es der Lindenberg vorgemacht hat, die Sache gefährden, bevor sie überhaupt gelaufen ist.

Ich finde auch, es gehört sich als Gast in einem anderen Land nicht, denen vorzuschreiben, wie sie denn Friedenspolitik zu machen hätten. Erstmal muß ich doch mit großen Ohren dort hinfahren, um mir anzuhören, was die erzählen. Dann kann ich mir eine Meinung dazu erlauben.

Frage: Und was steht sonst noch für die nähere Zukunft an?

Kunze: Direkt nach der laufenden Tour werde ich nach New York fahren, um mir einige Musicals anzusehen, von denen ich eins ('Die Elenden') auch übersetzen werde. Das habe ich kürzlich schon in London gesehen und das soll 1988 auf deutsche Bühnen kommen. Das ist ein Riesenprojekt mit einem Wahnsinnsaufwand und auch einer großen Verantwortung, daß ich rechtzeitig fertig werde.

Zwischendurch werde ich außerdem für einen Privatsender eine Rundfunkserie über Genesis machen, dann ist Sommer mit einigen Open-Airs und im Herbst geht es noch zu Konzerten nach Österreich und in die Schweiz.

Für 1988 steht dann eine neue Studio-LP an.

Frage: Mit einer anschließenden Tour, auch wieder durch Norddeutschland?

Kunze: Das nehme ich schon an. Norddeutschland ist ja nun mal unser Stammland, in dem wir auch immer ein dankbares Publikum gefunden haben.

Es gibt da ja ein deutliches Nord-Süd-Gefälle, wie ich es auch jetzt wieder erleben konnte. Wenn wir in einer Stadt wie Hildesheim vor 3000 Leuten spielen, haben wir zum Beispiel in Stuttgart nur 1500 Besucher. Das wird wohl auch so bleiben und das ist bei allen Kollegen, die nicht süddeutsch oder bayrisch oder ähnlich reden, genau so.

Frage: Sind die Leute da vielleicht auch konservativer als hier?

Kunze: Vielleicht liegt es nicht unbedingt daran, daß es da nicht genügend hellwache Leute gibt – die gibt es schon, nur wird man dort in den Medien ganz anders behandelt. Ich habe das ja unter anderem in Würzburg gemerkt, wo viele Leute im Saal waren, die ganz offensichtlich von mir nur Mit Leib und Seele und Dein ist mein ganzes Herz kannten, und so völlig erstaunt waren, was sonst noch läuft.

In Bayern leben wir ja nun in einer der perfektesten Diktaturen der Welt, die als parlamentarische Demokratie getarnt ist und da sind die Menschen eben auch ganz konsequent in der Ausübung ihrer Macht.

Frage: Vor der nächsten Tour gibt es aber noch einen Live-Mitschnitt von dieser?

Kunze: Ja, es gibt einen Zusammenschnitt der letzten beiden Tourneen als Doppel-LP.

Frage: Die welchen Titel haben wird?

Kunze: Das verrate ich natürlich noch nicht.

Jörn Gattermann, Schülerzeitung "KB-CK"/"Omega", 13. Februar 1987

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